von Dr. Michael Richter (rbm)
Das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) hat durch das Bundesteilhabegesetz weitreichende Änderungen erfahren. Anfang 2018 treten die neuen Regelungen im Reha-Verfahrensrecht nach SGB IX, Teil 1, in Kraft. Die Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” (rbm) erklärt, wie sich die Änderungen auf die Beantragung von behinderungsbedingt notwendigen Hilfen auswirken.
Lange wurde um das Bundesteilhabegesetz gerungen, Ende 2016 wurde es im Bundestag verabschiedet. Seit Anfang 2017 gelten die ersten Neuregelungen durch dieses so genannte Artikelgesetz, das in verschiedene Gesetze eingreift und sie verändert. Quasi in letzter Sekunde wurde beschlossen, die Neuregelungen zeitlich versetzt in vier Stufen einzuführen. Die ab Anfang 2017 eingetretenen und für unseren Personenkreis relevanten Veränderungen sind die Einführung des Merkzeichens “TBl” (taubblind) im Schwerbehindertenausweis und die Erhöhung der Einkommens- und Vermögensgrenzen im Rahmen der Eingliederungshilfe sowie die Verbesserungen bei der so genannten Blindenhilfe gemäß § 72 SGB XII (vgl. “Sichtweisen” 04/2017).
Mit Beginn des neuen Jahres treten nun die Vorschriften der zweiten Stufe in Kraft. Im Wesentlichen handelt es sich um die Neuregelung des SGB IX. Dieses bestand bisher aus zwei Teilen, die überarbeitet und neu sortiert wurden. Der zweite Teil, das so genannte Schwerbehindertenrecht, das unter anderem die Schwerbehindertenquote in Unternehmen, Aufgaben des Integrationsamtes und Nachteilsausgleiche regelt, ist Teil drei geworden und 83 Paragrafen nach hinten gerückt, um Platz zu schaffen für den neuen, ab 2020 geltenden leistungsrechtlichen Teil zwei. Im Folgenden soll es um das neue Reha-Verfahrensrecht im ersten Teil des SGB IX gehen.
Aus der täglichen Beratungspraxis ist bekannt, dass den Vorschriften zur Zuständigkeitsklärung zwischen den verschiedenen Reha-Trägern, zu den Bearbeitungsfristen und zur Möglichkeit der Selbstbeschaffung ohne Anspruchsverlust gemäß §§ 14 und 15 SGB IX (alt) eine wichtige Rolle zukommt. Gerade in diesem Bereich gibt es einige interessante Neuerungen.
Nach wie vor sind die Fristen für die Zuständigkeitsklärung und Bearbeitung von Anträgen in § 14 SGB IX geregelt. Wie bisher hat der Reha-Träger, bei dem ein Antrag eingeht – ob Krankenkasse, Agentur für Arbeit, Rentenversicherung oder Sozialhilfeträger – zwei Wochen Zeit, um zu prüfen, ob er für die Leistung zuständig ist und den Antrag gegebenenfalls an einen Träger weiterzuleiten, den er für zuständig hält. Sofern eine Weiterleitung stattfindet, muss der Antragsteller zwingend darüber informiert werden (§ 14 Abs. 1 SGB IX) – das ist neu. Neu ist auch: Der Träger, an den ein Antrag weitergeleitet wurde, darf den Antrag ausnahmsweise und im Einverständnis mit dem dann vermeintlich richtigen Leistungsträger noch ein weiteres Mal weiterleiten (§ 14 Abs. 3 SGB IX). Auch über diese erneute Weiterleitung muss der Antragsteller informiert werden.
Grundsätzlich ist für die Bearbeitung eines Antrags – vom Eingang über die Zuständigkeitsklärung bis zur Entscheidung – eine Frist von drei Wochen vorgesehen, die um maximal zwei Wochen verlängert werden kann, wenn der Antrag weitergeleitet wird, und um nochmals zwei Wochen, wenn ein Gutachten erstellt werden muss (§ 17 SGB IX).
Ein neu eingeführtes Instrument ist der so genannte Teilhabeplan (§ 19 SGB IX). Dieser soll aufgestellt werden, wenn für die Feststellung des Reha-Bedarfs die Zusammenarbeit verschiedener Träger notwendig ist. Auf dieser Basis soll ein einziger Antrag mit Bedarfen aus unterschiedlichen Reha-Bereichen durch verschiedene Träger bearbeitet werden. Sofern der Antragsteller dies nicht aus wichtigen Gründen ablehnt, erhält er von jedem beteiligten Träger einen eigenständigen Bescheid (§ 15 SGB IX). In der Regel sollte ein Antrag nach spätestens sieben Wochen beschieden sein, was ungefähr den bisherigen Fristen entspricht.
Von praktischer Bedeutung ist die Neuregelung der Rechtsfolge, wenn ein Antrag nicht rechtzeitig bearbeitet wird. Bisher konnte der Antragsteller in diesen Fällen eine “angemessene Nachfrist” setzen (zum Beispiel zehn Tage) und für den Fall der Nichtbeachtung ankündigen, dass er sich die benötigte Leistung selbst beschafft (Vorleistung gemäß § 15 SGB IX alt). In Zukunft ist eine Nachfrist nicht mehr erforderlich. Der Antrag gilt nach zwei Monaten als genehmigt (Genehmigungsfiktion), sofern nicht in komplizierten Fällen rechtfertigende Gründe vorliegen, die ebenso wie ein exaktes Datum für die Bescheidung dem Antragsteller mitgeteilt wurden (§ 18 SGB IX).
Nichtjuristen könnten jetzt einwenden, dass der Unterschied zwischen der Möglichkeit, in Vorleistung zu treten (alt) und einer Genehmigungsfiktion (neu) nicht groß sein kann – doch weit gefehlt! Die Möglichkeit zur Vorleistung bedeutete zwar, dass der Antragsteller die beantragte Leistung nach Ablauf der Nachfrist selbst anschaffen konnte. Für die Kostenerstattung musste er aber den Verfahrensgang abwarten. Das konnte zu Fällen wie diesem führen: Ein sehbehinderter Mann beantragt bei seiner Krankenkasse ein Bildschirmlesegerät und kauft nach Ablauf der Nachfrist ein geeignetes Gerät. Dieses Gerät wird später abgelehnt, woraufhin der Antragsteller Widerspruch einlegt. Erst Jahre später wird sein Anspruch vor Gericht festgestellt, allerdings mit dem Verweis darauf, dass es zum Anschaffungszeitpunkt kostengünstigere und trotzdem geeignete Geräte gegeben hätte. Im Ergebnis kann der Betroffene erst nach Jahren den Ersatz seiner Kosten verlangen und bleibt auf den theoretisch vermeidbaren Mehrkosten sitzen.
Im Falle der Genehmigungsfiktion bleibt dem Antragsteller das langwierige Verfahren erspart, denn die Leistung gilt in der Regel nach Ablauf der Zweimonatsfrist als genehmigt. Der Antragsteller hat, sofern er nicht grob fahrlässig Mehrkosten durch seine Selbstbeschaffung verursacht, einen Anspruch auf den verauslagten Betrag gegenüber dem Leistungsträger. Welche Relevanz der Genehmigungsfiktion in der Praxis zukommt, ist auch in dem Artikel “Keine Antwort ist auch eine Antwort” in den “Sichtweisen” 07-08/2017 anhand der bestehenden Regelung gemäß § 13 Abs. 3a SGB V für Ansprüche gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse deutlich geworden.
Einen Haken gibt es allerdings bei der durch das Bundesteilhabegesetz neu eingeführten Genehmigungsfiktion: Sie gilt nicht für alle Reha-Träger. Ausgerechnet die für blinde und sehbehinderte Menschen wichtigen Leistungsträger der Eingliederungshilfe, der öffentlichen Jugendhilfe und der Kriegsopferfürsorge sind von dieser Regelung ausgenommen (§ 18 Abs. 7 SGB IX). So dürfte es zwar nicht mehr passieren, dass Menschen, die während der Probezeit an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht mit den beantragten Hilfsmitteln ausgestattet werden, wieder entlassen werden, ohne zeigen zu können, was in ihnen steckt. Zu einer entsprechenden Erleichterung für Studierende kommt es aber nicht. Denn für die Hilfsmittelausstattung im Studium sind die Träger der Eingliederungshilfe zuständig, die von der Genehmigungsfiktion ausgenommen sind.
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Sichtweisen” Ausgabe 01-02/2018 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.).
Dr. Michael Richter
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