10 Jahre AGG - eine Zwischenbilanz

von Dr. Michael Richter (rbm)

Die Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im August 2006 war ein Meilenstein. Das Gesetz regelt den Schutz vor Diskriminierungen im Arbeits- und Zivilrecht. Wenn Menschen ihr Recht durchsetzen wollen, stoßen sie aber oft auf Hürden. Damit der Schutz vor Benachteiligungen effektiver wird, ist eine Novellierung des Gesetzes geboten.

Als vor zehn Jahren das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) erlassen wurde, war dies aus Sicht behinderter Menschen lange überfällig. Bereits im Zusammenhang mit dem Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG), das im Jahr 2001 in Kraft trat, hatte unter anderem das Forum behinderter Juristinnen und Juristen gefordert, den Schutz vor Diskriminierung auch im Bereich des Zivilrechts zu regeln. Weiteren Druck gab es auf politischer Ebene, als die Umsetzung der hierzu ergangenen europarechtlichen Richtlinien angemahnt wurde.

In der Wirtschaft war die Skepsis gegenüber dem AGG groß, weil zum einen die Vertragsfreiheit gefährdet schien und zum anderen Klagewellen befürchtet wurden, die den Wirtschaftsverkehr nicht unerheblich hätten behindern können. Diesen Befürchtungen standen auf Seiten der potenziellen Diskriminierungsopfer und ihrer Verbände erhebliche Hoffnungen auf eine Stärkung ihrer gesellschaftlichen Position gegenüber.

Diskriminierung im Alltag

Eine einfache Internetrecherche führt zu dem Ergebnis, dass es bei AGG-Klagen am häufigsten um Fälle aus dem Arbeitsrecht geht. Über 30 Prozent aller Anfragen bei den Antidiskriminierungsstellen stehen im Zusammenhang mit einer Behinderung. Bei diesem Diskriminierungsmerkmal ist die Dominanz von arbeitsrechtlichen Streitigkeiten sogar noch stärker ausgeprägt.

Bei den dokumentierten Verfahren geht es überwiegend um Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen für eine Stelle bei öffentlichen Arbeitgebern. Um eine Diskriminierung im Sinne von § 22 AGG glaubhaft zu machen, muss der Betroffene lediglich Indizien liefern. Das häufigste Indiz ist die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch, zu der Arbeitgeber der öffentlichen Hand bei vorhandener Eignung gemäß § 82 SGB IX verpflichtet sind. Gelingt die Glaubhaftmachung, hat der Arbeitgeber die volle Beweislast, um die Indizien bezüglich einer Diskriminierung zu entkräften.

Im Gegensatz zu Diskriminierungen aufgrund anderer Merkmale im Sinne des AGG, etwa der ethnischen Herkunft, der Religion oder der sexuellen Identität, treffen Menschen mit Behinderungen bei ihrer Freizeitgestaltung oder im Alltag häufig auf Benachteiligungen, die nicht Motiven der inneren Ablehnung entspringen, sondern auf eine positiv gemeinte, überbordende Fürsorge zurückgehen. Die Folgen wiegen nicht weniger schwer, weil Menschen mit Behinderungen daran gehindert werden, für andere selbstverständlich zugängliche Angebote in Anspruch zu nehmen. So kommt es immer wieder vor, dass blinden Menschen die Achterbahnfahrt, der Hallenbadbesuch oder die regelmäßige Nutzung eines Fitnessstudios verwehrt wird. Dabei wird das Merkzeichen “B” im Schwerbehindertenausweis oft falsch verstanden - nicht als Recht, sondern als Pflicht zur Inanspruchnahme einer Begleitperson.

Gemeinsam ist diesen Praxisbeispielen, dass die Verantwortlichen besondere Gefahren vermuten, die sie aus fürsorglichen oder versicherungstechnischen Gründen durch ein Benutzungsverbot für einen bestimmten Personenkreis vermeiden wollen. Rechtlich hat ein solches Verhalten einen Anknüpfungspunkt in § 20 Abs. 1 Nr. 1 AGG, wo es heißt:

“Eine Verletzung des Benachteiligungsverbots ist nicht gegeben, wenn für eine unterschiedliche Behandlung wegen [...] einer Behinderung [...] ein sachlicher Grund vorliegt. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn die unterschiedliche Behandlung der Vermeidung von Gefahren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art dient.”

(vgl.: “Gegenwart” 7-8/2015)

Zurückhaltende Rechtsprechung

Nach meinen Erfahrungen als Anwalt besteht bei Richtern noch eine sehr kritische Distanz zur konsequenten Anwendung des AGG, so dass Spielräume für eine restriktive Rechtsprechung in der Regel genutzt werden. So hat zum Beispiel das Landgericht Saarbrücken einer Versicherung Recht zugesprochen, die sich geweigert hatte, mit einem blinden Menschen ohne weitere Vorerkrankungen eine Pflegetagegeldversicherung abzuschließen. Das Gericht stellte auf Basis eines Sachverständigengutachtens ein erhöhtes Versicherungsrisiko beim Kläger fest und rechtfertigte die generelle Abschlussverweigerung, obwohl die Versicherung gemäß § 20 Abs. 2 Nr. 3 AGG zu einer transparenten und diskriminierungsfreien Angebotserstellung verpflichtet ist.

Gleiches gilt für den Bereich der Freizeitdiskriminierungen, bei denen eine Ungleichbehandlung häufig mit Gründen der Gefahrenabwehr nach § 20 Abs. 1 AGG gerechtfertigt wird. Wird jedoch eine Diskriminierung festgestellt, kommt es meist nur zu einer niedrigen Entschädigung im dreistelligen Eurobereich. Selbst im Arbeitsrecht werden Spielräume eher zulasten der Diskriminierungsopfer genutzt und bei Verfahrensfehlern weitgehende “Heilungsmöglichkeiten” angenommen. Eine Möglichkeit, den Diskriminierungsschutz auszuhebeln, besteht auch darin, die strengen Vorgaben bei der Bewerberauswahl für öffentliche Arbeitgeber nicht auf privatrechtlich organisierte Töchter der öffentlichen Hand anzuwenden.

Schwachstellen des AGG

Nach zehn Jahren Erfahrung mit dem AGG lässt sich sagen, dass die Erwartungen der Verbände und Interessengruppen der potenziellen Diskriminierungsopfer eher enttäuscht wurden. Dagegen haben sich die Befürchtungen, dass sich das Gesetz negativ auf den Wirtschaftsverkehr auswirken würde, nicht bewahrheitet.

Wie zahlreiche Urteile zum Diskriminierungsrecht im Bewerbungsverfahren bei öffentlichen Arbeitgebern zeigen, gewährt das AGG dort besonders effektiven Diskriminierungsschutz, wo es mit eindeutigen Handlungsrichtlinien wie den §§ 81 und 82 SGB IX interagiert. Umgekehrt scheint es besonders wirkungslos, wo der Gesetzgeber bereits im Gesetz so genannte Rechtfertigungstatbestände vorgesehen, also Schlupflöcher eröffnet hat. Dies gilt für die Gefahrenabwehr nach § 20 Abs. 1 AGG oder unterschiedliche Versicherungsbedingungen nach § 20 Abs. 3 AGG. Dass das Gesetz die Entschädigungssummen nach oben begrenzt, bei Diskriminierungen im Arbeitsbereich zum Beispiel auf das dreifache Bruttomonatsgehalt, ist kritisch zu beurteilen. So werden Entschädigungen in das Ermessen des Gerichtes gestellt - mit der Folge, dass eher niedrige Beträge festgesetzt werden, die aus Sicht des Opfers das Prozesskostenrisiko nicht rechtfertigen.

Diskriminierungsschutz verbessern - Gesetz überarbeiten

In der Gesellschaft hat das AGG sicherlich dazu geführt, dass heute eine größere Sensibilität für das Thema besteht als vor zehn Jahren. Allerdings wird Diskriminierung noch nicht als sanktionierbares Verhalten wahrgenommen. Um in Deutschland einen effektiveren Diskriminierungsschutz zu gewährleisten, sollte das AGG einer Überarbeitung unterzogen werden. Dabei müssen zunächst die Rechtfertigungstatbestände eingeschränkt werden. Um gegen häufig wiederkehrende Diskriminierungstatbestände besser vorgehen zu können, brauchen die Verbände potenzieller Diskriminierungsopfer einen erleichterten Zugang zum Verbandsklagerecht, damit sie stellvertretend für alle betroffenen Menschen klagen können. Schließlich ist es wichtig, verbesserte Beratungsangebote einzurichten. Hier ist die Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” (rbm) aktiv geworden, indem sie im September das Antidiskriminierungsberatungsnetzwerk in Hessen mitbegründet hat. Dieses soll die Antidiskriminierungsstelle auf Landesebene unterstützen und im Einzelfall eine kostenlose Vertretung vor Gericht ermöglichen.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 11/2016 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.).

Angaben zum Autor

Dr. Michael Richter
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