Grundbedürfnis Internet

von Christiane Möller (rbm)

Das Internet hat nicht nur unsere Gesellschaft verändert, es verändert auch die Rechtsprechung. Aktuellen Urteilen zufolge gehört der Zugang zum World Wide Web zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Im Klartext: Die gesetzlichen Krankenkassen müssen Hilfsmittel wie Screenreader oder Vergrößerungssoftware bezahlen. Die Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” informiert.

Zeitungen, Bücher, Zugfahrpläne, behördliche Bekanntmachungen, Rechnungen, Briefe, Notizen, Lexika und die ganze weite Welt des Internets: Die Angebotspalette an Informationen nimmt ständig zu. Lesen zu können ist die Grundvoraussetzung, um an der Gesellschaft teilzuhaben und nicht den Anschluss zu verlieren. In punkto Lesen aber haben blinde und sehbehinderte Menschen erhebliche Probleme, denn die allerwenigsten Schriftstücke und Medien sind in einem zugänglichen Format wie Großdruck, DAISY oder Braille verfügbar. Zum Glück gibt es Hilfsmittel wie Lupen, Bildschirmlesegeräte, Vergrößerungssoftware, Vorleseprogramme oder Brailleausgabegeräte. Nur sind diese Hilfsmittel teuer und für viele nur erhältlich, wenn die zuständigen Kostenträger ihren Beitrag leisten. Kommen hierfür die gesetzlichen Krankenkassen infrage?

Grundsätzlich haben behinderte Menschen Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen Hilfsmitteln, die die ausgefallene Körperfunktion unmittelbar ausgleichen, etwa Hörgeräte, die ein besseres Hören ermöglichen, und solchen Hilfsmitteln, die einen mittelbaren Behinderungsausgleich bewirken. So wird ein Blinder mittels Braillezeile nicht wieder sehen können; stattdessen nutzt er den Tastsinn, um das ausgefallene Sehvermögen beim Lesen zu ersetzen. Während bei unmittelbar ausgleichend wirkenden Hilfsmitteln das Ziel der Hilfsmittelversorgung immer darin besteht, einen vollständigen Funktionsausgleich zu schaffen, geht es bei Hilfsmitteln, die lediglich die Folgen einer Behinderung mildern, nur um einen so genannten Basisausgleich. Die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist Aufgabe anderer Träger, etwa der Rentenversicherung, Arbeitsagenturen oder Sozialämter.

Praktisch bedeutet dies, dass die Krankenkassen nur für solche Hilfsmittel einstehen müssen, die erforderlich sind, um so genannte Grundbedürfnisse des täglichen Lebens befriedigen zu können. Zu diesen Grundbedürfnissen zählt unter anderem die Erschließung eines eigenen geistigen Freiraums, wozu der Zugang zu Informationen und die Kommunikation mit anderen gehören. Aber was heißt in diesem Zusammenhang Basisausgleich?

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hatte im vergangenen Jahr über eine Screenreader-Software zu entscheiden und führte hierzu aus:

“Im Hinblick auf das hier allein in Betracht kommende Grundbedürfnis des ‘Erschließens eines gewissen geistigen Freiraums’ ist dieses Grundbedürfnis jedoch nicht nur in einem eingeschränkten Sinn auszugleichen, sondern insbesondere dem Informationsbedürfnis ist in einem umfassenden Sinn Rechnung zu tragen (BSG, Urteil vom 23.8.1995, 3 RK 7/95, SozR 3-2500 §33 Nr.16); der Informationsbedarf und die Informationsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft, die ständig und in steigendem Maße zunehmen, sind zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 16.4.1998, B 3 KR 6/97 R, aaO unter ausdrücklichem Hinweis auf die Nutzung des Internets). Zur Überzeugung des Senats tritt der Kommunikations- und Informationsbedarf über das Internet und den Computer im Allgemeinen mittlerweile im Rahmen einer normalen Lebensführung auf und betrifft daher ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens. Bezüglich des Informationsbedarfes können über das Internet unter anderem Recherchen betrieben werden. Das Lesen einer Online-Zeitung oder der regionalen oder überörtlichen Zeitung stellt dabei nur einen Teilbereich der Möglichkeiten dar. Darüber hinaus können Informationen aus vielen anderen Bereichen, zum Beispiel rund um notwendige Behördengänge, beschafft oder Online-Geschäfte abgeschlossen werden. Bereits in diesem weiten Sinn ist eine Zugangsmöglichkeit zum Internet als Grundbedürfnis im Zuge der Modernisierung und Digitalisierung der Gesellschaft anzusehen. [...]

Des Weiteren erleichtert die Screenreader-Software dem Kläger über die Nutzung des Computers, insbesondere der einschlägigen (Text-)Programme, (mit und ohne Internet) Grundbedürfnisse im Bereich der Kommunikation, insbesondere auch der aktiven schriftlichen Kommunikation. [...]

Ferner wird mit der Screenreader-Software die Fähigkeit, sich im Alltag druckschriftlich mitzuteilen, unterstützt. Sowohl im gesellschaftlichen als auch im privaten Bereich müssen wesentliche Erklärungen schriftlich und insbesondere in lesbarer Form abgegeben werden, wie zum Beispiel in der Kommunikation mit Kreditinstituten, dem Vermieter, privaten oder staatlichen Unternehmen (z.B. dem Energieversorger etc.) oder Behörden (z.B. der Beklagten oder dem Rentenversicherungsträger)”

(vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.8.2010  –  L 11 KR 3089/09).

Der Verweis einiger Krankenkassen auf die Nutzung so genannter geschlossener Vorlesegeräte, mit denen man allein gedruckte Texte einscannen kann, ist damit nicht zulässig. Ähnlich entschied kürzlich das Sozialgericht Karlsruhe bei der Kostenübernahme für eine PC-Vergrößerungssoftware (Urteil vom 28.7. 2011  –  S 4 SO 2175/10). Mit Verweis auf weitere erstinstanzliche Urteile deutscher Sozialgerichte wurde ein Anspruch der Versicherten bejaht und ganz klar darauf hingewiesen, dass das Informationsbedürfnis den Zugang zu gedruckten wie auch zu elektronischen Informationsquellen umfasst. Das heißt: Ein schlichter Verweis auf ein Bildschirmlesegerät ist ebenfalls nicht statthaft, vielmehr ist bei Bedarf zusätzlich eine Vergrößerungssoftware zur Verfügung zu stellen.

Mit diesem sehr erfreulichen Urteil schließt sich das Karlsruher Sozialgericht einer Position an, die das Sozialgericht Marburg bereits im Frühjahr 2009 eingenommen hat (vgl. “Gegenwart” 1/2010). Offenbar setzt sich in der Rechtsprechung die Erkenntnis durch, dass die Nutzung des Internets zur Information und Kommunikation ein Grundbedürfnis darstellt.

Artikel aus der “Gegenwart” 01/2010 “Recht auf Internet” von Dr. Michael Richter (rbm)


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 11/2011 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband).

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Christiane Möller
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