Recht auf Internet

von Dr. Michael Richter (rbm)

Zählt das Internet zu den Grundbedürfnissen? Diese Frage hat das Sozialgericht Marburg am 05. März 2009 in bemerkenswerter Klarheit bejaht und dem blinden Kläger einen Anspruch auf Ausstattung mit einem offenen Vorlesesystem inklusive Braillezeile zulasten seiner gesetzlichen Krankenkasse zugesprochen (S 6 KR 66/08). Die Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” (rbm) informiert.

Der Kläger hatte die Versorgung mit einem offenen Computervorlesesystem beantragt. Konkret ging es darum, den vorhandenen PC mit dem behinderungsspezifischen Zubehör in Form einer Braillezeile und des Screenreaders JAWS auszustatten. Die zuständige Krankenkasse bewilligte jedoch nur eine Versorgungspauschale für die Braillezeile als Komponente eines so genannten geschlossenen Vorlesesystems. Damit ist kein Zugang zum Internet möglich, vielmehr handelt es sich um ein Kompaktgerät, das nur dem Einscannen und der Wiedergabe von Texten dient. Daraufhin landete der Fall vor Gericht.

In der Urteilsbegründung heißt es, dass das offene Vorlesesystem einen Behinderungsausgleich im Bereich der Kommunikation vermittle, weil der Kläger damit nicht nur gedruckte Texte einschließlich Tabellen und Spalten lesen kann, sondern darüber hinaus auch Zugang zu Informationen hat, die er sich selber über das Internet erschließen kann. Bei der Beurteilung, ob der Gebrauchsvorteil die erheblichen Mehrkosten rechtfertige, erklärt das Gericht, dass es sowohl ausreichend als auch erforderlich sei, wenn ein konkreter Informationsbedarf im Rahmen einer normalen Lebensführung auftritt. Als Maßstab hierfür sei der allgemein praktizierte Informationsbedarf heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.08.1995, Az.: 3 RK 7/95).

Das Gericht fährt fort: “Das Grundbedürfnis der Information im Alltag umfasst in der heutigen Zeit auch die Möglichkeit, sich Zugang zu Informationen durch Recherchen zu verschaffen. Es beschränkt sich nicht auf das Lesen von Druckschriften. [...] Zur Überzeugung des Gerichts ist mittlerweile als Standard, zumindest bei jungen Menschen, anzusehen, dass ein Rechner mit Internetanschluss vorhanden ist. Für Recherchen, also zur Informationsbeschaffung, ist das Internet als Medium sicherlich heute nicht mehr wegzudenken. Die Nutzung des Internets ist deshalb in den Schutzbereich des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben einschließlich der Schaffung eines eigenen geistigen Freiraums und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu sehen. Die umfassende Information ist auch für die Persönlichkeitsentfaltung und Allgemeinbildung von elementarer Bedeutung. Bereits in diesem Sinne ist eine Zugangsmöglichkeit zum Internet als Grundbedürfnis im Zuge der Modernisierung, Technisierung und Digitalisierung der Gesellschaft anzusehen.”

Zusammenfassend stellt das Marburger Gericht fest, dass sowohl der Zugang zu Informationen als auch die Teilnahme am schriftlichen Geschäftsverkehr heute selbstverständliche Bestandteile eines selbstbestimmten Lebens seien, die aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung jedem Menschen zugestanden werden müssen. Wörtlich führt es weiter aus: “Mit dem Verweis auf allein ein geschlossenes Vorlesesystem wird dem Kläger jeglicher Zugang zu Informationen verwehrt. Es wird ihm darüber hinaus verwehrt, am schriftlichen Geschäftsverkehr teilzunehmen. [...] Eine Reduktion des Menschen auf das Lesen von Drucktexten käme im Hinblick auf die sonst zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten in der heutigen Zeit einer Verdummung gleich. Demgegenüber steht ein unerschöpflicher Informationspool im Internet, den sich der Kläger nach seinen Bedürfnissen erschließen kann. Nicht zuletzt vermag er so am schriftlichen Geschäftsverkehr teilzunehmen.”

Im Ergebnis eine erstaunlich deutliche Stellungnahme eines Sozialgerichts, die nach Auffassung des rbm-Teams die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts konsequent und sachgerecht weiterentwickelt. Allerdings soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass es ein gegenteiliges Urteil in einer vergleichbaren Sache des Landessozialgerichts Bayern vom 04. September 2008 gibt (Az.: L 4 KR 15/07). Hoffen wir, dass sich die im Marburger Urteil dargestellte Rechtsauffassung in der Sozialrechtsprechung durchsetzen wird.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 01/2010 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband).

Angaben zum Autor

Dr. Michael Richter
Rechte behinderter Menschen gGmbH
Frauenbergstr. 8
35039 Marburg
Tel.: 0 64 21 /9 48 44 - 90 oder 91
Fax: 0 64 21 /9 48 44 99
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