Wie Verbände klagen können

von Dr. Michael Richter (rbm)

Drei Jahre lang lief ein Muster- und Verbandsklageprojekt, das der DBSV veranstaltet hat, vor allem für Multiplikatoren anderer Behindertenverbände. Warum das Projekt ins Leben gerufen wurde, wen und was es erreichte, erklärt der folgende Beitrag. Eine Routine bei Verbandsklagen muss sich jedoch erst noch entwickeln. Auch das ist eine Erkenntnis aus dem Projekt.

Um die Benachteiligung behinderter Menschen zu verhindern und Barrierefreiheit voranzubringen, gibt es eine Reihe von Regelungen, die man unter anderem in den Behindertengleichstellungsgesetzen von Bund und Ländern findet. Weil jedoch der einzelne behinderte Mensch oft nicht in der Lage ist, seine Rechte durchzusetzen, gibt es seit vielen Jahren die Möglichkeit, mit einer Verbandsklage gegen Barrieren und Diskriminierung zu kämpfen. Dieses Mittel wurde von den Verbänden bisher jedoch selten genutzt.

Hier setzte ein behinderungsübergreifendes – von Aktion Mensch gefördertes – Projekt an, das der DBSV von Januar 2017 bis Dezember 2019 mit seiner Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” (rbm) durchführte.

Was ist in den drei Projektjahren passiert? Mehr als 500 Multiplikatoren in Behindertenverbänden wurden zum Verbandsklagerecht informiert, sensibilisiert und geschult. Basis dafür waren eine Bestandsaufnahme zu bereits durchgeführten Verbandsklagen, die konkreten rechtlichen Rahmenbedingungen und einschlägige Literatur. So entstand allmählich auch ein Netzwerk. Drei thematische Workshops, die sich unter anderem mit der rechtlichen Durchsetzung einer barrierefreien Gesundheitsversorgung und barrierefreier Mobilität befassten, boten Raum für weitere Vernetzung und das Sammeln von Verstößen gegen Barrierefreiheit.

Einen zweiten Schwerpunkt der Arbeit bildete die rechtliche Bewertung der eingegangenen Anliegen. Die Juristinnen und Juristen der rbm schätzten ein, welche vorgetragenen Fälle der Behindertenverbände sich für eine Verbandsklage eigneten. In ausgewählten Fällen sind Schlichtungsverfahren und auch ein Verbandsklageverfahren mit den betroffenen Verbänden angestrengt worden.

Erste Verfahren begleitet

Wie sieht das Fazit nach drei Jahren Projektlaufzeit aus? Auch wenn anfangs der Aufbau eines Netzwerks schwer war und bei vielen Verbänden zunächst Vorbehalte und große Informationslücken bestanden, konnte in der Projektzeit doch das Interesse am Thema und das Potenzial von Verbandsklagen bei einigen Selbsthilfeorganisationen geweckt werden. Insbesondere die Multiplikatorenschulungen und die Workshops halfen hier weiter. Durch zahlreiche Schulungen zum Thema Barrierefreiheit, der richtigen rechtlichen Einordnung des Anspruchs auf Umsetzung und Aufklärung über die Einsatzmöglichkeiten einer Verbandsklage in diesem Kontext konnten schließlich erste Verfahren erfolgreich begleitet werden.

Ein Urteil gab es in drei Jahren Projektlaufzeit zwar nicht, dennoch sind positive Ergebnisse erzielt worden. Drei Beispiele: Auf einem öffentlichen Platz in Norddeutschland wurden Baumängel beseitigt, sodass ein barrierefreier und gefahrloser Zugang jetzt auch für behinderte Menschen möglich ist. Die digitalen Fragebögen zur Teilnahme am Mikrozensus werden nun barrierefrei gestaltet. Und schließlich wurde im Rahmen einer Schlichtung erreicht, dass der zusätzliche Einbau eines Warngeräuschs, ein sogenanntes AVAS, bei Fahrzeugen mit Elektroantrieb im Rahmen eines Bundesprogramms finanziell gefördert wird.

Kein zahnloser Tiger

Zum Hintergrund: Im Jahr 2016 wurde das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz mit einem Schlichtungsverfahren gemäß Paragraf 16 ergänzt – vor einer Verbandsklage ist ein solches Schlichtungsverfahren zwingend zu durchlaufen. Durch diese Ergänzung veränderten sich die Rahmenbedingungen f¨r Verbandsklagen auf Bundesebene erheblich. Die hierdurch geschaffene Möglichkeit, sich als Verband niederschwellig gegen die Nichteinhaltung von Standards der Barrierefreiheit zu wenden, hat sich als sehr positiv und erfolgversprechend erwiesen. Der verbandliche Rechtsschutz ist also kein zahnloser Tiger.

Es hat sich aber auch gezeigt, dass der Aufbau einer rechtlichen Expertise zum Einsatz von Muster- und Verbandsklagen oft nicht ausreicht, da die konkreten gesetzlichen Regelungen zur Barrierefreiheit häufig äußerst komplex sind und es des Zusammenspiels mehrerer Expertinnen und Experten bedarf. Beispielsweise spielten in den begleiteten Schlichtungsverfahren europäisches Ausschreibungsrecht, Subventionsrecht, vertiefte Kenntnisse in der technischen Gestaltung von Autoelektronik, Fachwissen zum Thema barrierefreie Webseitengestaltung und Architekturkenntnisse eine Rolle.

Durch die Schlichtungs- und das Klageverfahren wurden zwar wichtige Erkenntnisse gewonnen, jedoch reicht deren Anzahl nicht aus, um sie systematisch und statistisch auszuwerten und Routinen zu entwickeln. So konnten bisher lediglich – durch Einzelfallerfahrungen belegbare – Erkenntnisse formuliert und in einer Checkliste zusammengefasst werden. Behindertenorganisationen können mit dieser Checkliste zu einer ersten Einschätzung kommen, ob in einem konkreten Fall eine Verbandsklage sinnvoll ist und was es dann zu beachten gilt.

In der Konsequenz kann dementsprechend nur empfohlen werden, weiter am Thema zu arbeiten.

Weitere Informationen finden Sie auf der Projektseite des DBSV.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Sichtweisen” Ausgabe 01-02/2020 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.).

Angaben zum Autor

Dr. Michael Richter
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