Meilenstein zur beruflichen Inklusion

von Dr. Michael Richter (rbm)

Die Bewilligung einer Arbeitsassistenz dient nicht vorrangig der Vermeidung von Arbeitslosigkeit und der Förderung einer gewinnbringenden Tätigkeit: Das hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil deutlich gemacht. Vielmehr soll Assistenz Menschen mit Behinderung gleiche Chancen in ihrer Berufsausübung sichern. Welche Auswirkungen das Urteil haben könnte, erläutert Dr. Michael Richter.

Wie in der August-Ausgabe der “Sichtweisen” berichtet, hat das Bundesverwaltungsgericht im Januar einem Kläger Recht gegeben, der eine Festanstellung aufgab und für seine neue selbstständige Tätigkeit die Kostenübernahme für eine Arbeitsassistenz beantragte. Was bedeutet dieses Urteil konkret für Menschen, die Arbeitsassistenz benötigen?

Das Urteil vom 23.1.2018 (BVerwG Az: 5 C 9.16) ist über den verhandelten Einzelfall hinaus von Bedeutung. Nach wie vor gilt zwar der Grundsatz, dass Arbeitsassistenz nur dann gewährt wird, wenn sie notwendig ist, um mit Menschen ohne Behinderung im Arbeitsleben zu konkurrieren. Trotzdem wird das Urteil zu einer deutlich veränderten Praxis in der Leistungsgewährung führen.

Bisher wird in der Regel die “Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) zum Thema Arbeitsassistenz” umgesetzt, die vom April 2014 datiert. Diese BIH-Empfehlung fußt auf zwei Annahmen:

  1. Den Integrationsämtern steht bei der Gewährung von Leistungen der selbstorganisierten Arbeitsassistenz ein Ermessensspielraum zu.
  2. Arbeitsassistenz soll vor allem der Vermeidung von Arbeitslosigkeit von schwerbehinderten Menschen dienen.

Im Vordergrund steht die Frage “Kann ein schwerbehinderter Mensch auf diesem Weg wirklich gewinnbringend arbeiten?”

Dieses Grundverständnis und die entsprechende Auslegung der BIH-Empfehlung führten schon oft dazu, dass im Einzelfall Leistungen nicht ausreichend oder gar nicht gewährt wurden - insbesondere, wenn es um qualifiziertere oder innovative Erwerbstätigkeiten von schwerbehinderten Menschen ging. Im Sinne des hier zu besprechenden Urteils ist dieses Grundverständnis jedoch falsch.

  1. Dient der Anspruch auf selbstorganisierte Arbeitsassistenz nicht nur dazu, Arbeitslosigkeit von schwerbehinderten Menschen zu vermeiden. Er soll vielmehr schwerbehinderten Berufstätigen die gleichen Chancen auf Selbstverwirklichung ermöglichen wie nicht-behinderten. Denn schließlich gilt auch für sie das Grundrecht auf Berufs- und Berufswahlfreiheit gemäß Artikel 12 des Grundgesetzes.
  2. Darf keine “Wirtschaftlichkeitsprüfung” im Sinne einer Gegenüberstellung von “Arbeitsertrag” und den notwendigen Aufwendungen für eine Arbeitsassistenz erfolgen.

Aus einem Recht darf keine Pflicht werden

Entsprechend dieser Feststellung dürfte dann auch Punkt 2.2 der BIH-Empfehlung zu streichen sein. Diese Regelung verweist auf den Anspruch des behinderten Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber, sich gegebenenfalls auf einen geeigneteren Arbeitsplatz versetzen zu lassen (vgl. § 164, Abs. 4 SGB IX, a. F. § 81, Abs. 4 SGB IX). Problematisch daran war in der Praxis, dass aus diesem Recht eine Pflicht des schwerbehinderten Menschen gemacht wurde, die benötigte Arbeitsassistenz so weit wie möglich zu reduzieren. Bei “Nichtbefolgung” wurden Leistungen gekürzt oder versagt. Ähnlich verhielt es sich auch im verhandelten Fall, bei dem der Kläger im Rahmen seiner vorherigen Tätigkeit als Beamter nicht auf Arbeitsassistenz angewiesen war, sie für seine selbstständige Tätigkeit aber in Anspruch nehmen wollte. Aufgrund der nun vorliegenden Entscheidung hat der schwerbehinderte Mensch zwar nach wie vor Anspruch, sich auf einen geeigneteren Arbeitsplatz versetzen zu lassen, aber dieser Anspruch hat mit der Gewährung von Arbeitsassistenz nichts mehr zu tun.

Auch weitere Regelungen der BIH-Empfehlung zur Arbeitsassistenz dürften nicht mehr wie bisher anwendbar sein. So beschreibt etwa Punkt 2.3: Ein Arbeitsplatz für einen schwerbehinderten Menschen sei in der Regel nicht geeignet - und damit nicht “unterstützenswert” durch Gewährung von Assistenzleistungen -, wenn das Arbeitsentgelt oder der erzielte Ertrag einer selbstständigen Tätigkeit nicht doppelt so hoch wie die Kosten der Arbeitsassistenz sei. Ebensowenig sei ein Arbeitsplatz geeignet, wenn die Assistenzkraft mehr als die Hälfte der Zeit für ihre Tätigkeit benötige, die der schwerbehinderte Assistenznehmer für seine Arbeit braucht.

Ebenfalls neu zu bewerten dürfte auch die Frage nach der Qualifikation einer Arbeitsassistenz und ihrer Vergütung sein. Bisher gehen die Integrationsämter davon aus, dass für eine Assistenzerbringung keine Ausbildung oder Qualifikation notwendig ist. Dadurch wird die Finanzierung einer Arbeitsassistenz für schwerbehinderte Menschen, die einer qualifizierten Tätigkeit nachgehen, oft unmöglich, weil eine ortsübliche Bezahlung entsprechend der Entgeltgruppe 2 des Tarifvertrags der Länder für angemessen gehalten wird. Deshalb werden regelmäßig nur solche Kosten bei der Leistungsgewährung berücksichtigt (vgl. 4.1 der BIH-Empfehlung von 2014).

Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts dürfte dies nicht mehr so praktiziert werden. Zumindest in Fällen, bei denen eine besondere Qualifikation der Arbeitsassistenz geltend gemacht wird, müsste wohl künftig geprüft werden, welche Qualifikationen die Arbeitsassistenz tatsächlich benötigt und wie hoch sie entsprechend bezahlt werden kann.

Arbeitsassistenz auch bei Minijobs?

Das hier besprochene Urteil könnte mittelbar auch Auswirkungen auf die Frage haben, ob Arbeitsassistenz auch nach Erreichen des Renteneintrittsalters und bei prekären Arbeitsverhältnissen, beispielsweise 450-Euro-Jobs, zu gewähren ist. Die Integrationsämter verneinen das bisher generell. Wenn nun aber auf den richterlich festgestellten Zweck der Assistenzleistungen verwiesen wird, nämlich Chancengleichheit für schwerbehinderte Menschen im Erwerbsleben herzustellen, muss künftig eventuell anders entschieden werden. Das wäre auch deshalb wichtig, weil schwerbehinderte Menschen oft auch nach Erreichen des Renteneintrittsalters auf Arbeit angewiesen sind, zum Beispiel aufgrund behinderungsbedingter Verzögerungen in der Ausbildung oder wegen eines geringen Erwerbseinkommens oder weil sie selbstständig sind. Zudem schaffen viele den Einstieg ins Arbeitsleben leider nur durch prekäre Arbeitsverhältnisse.

Zusammengefasst kann man festhalten: Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.1.2018 ist ein Meilenstein auf dem Weg zur beruflichen Inklusion schwerbehinderter Menschen. Denn es formuliert das Prinzip der Herstellung von Chancengleichheit im Arbeitsleben für die Gewährung von selbstorganisierten Assistenzleistungen. So verbessert es die Möglichkeiten zur beruflichen Selbstverwirklichung.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Sichtweisen” Ausgabe 09/2018 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.).

Angaben zum Autor

Dr. Michael Richter
rbm gemeinnützige GmbH
Rechte behinderter Menschen
Biegenstraße 22
35037 Marburg
Tel.: 0 64 21 / 9 48 44 - 90 oder 91
Fax: 0 64 21 / 9 48 44 99
Website: rbm-rechtsberatung
E-Mail: kontakt(at)rbm-rechtsberatung.de

Unsere Sprechzeiten

Marburg:
Montag von 13:00 Uhr bis 17:00 Uhr
Mittwoch von 13:00 Uhr bis 17:00 Uhr
Freitag von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr

Berlin:
Dienstag von 13:00 Uhr bis 17:00 Uhr
Donnerstag von 13:00 Uhr bis 17:00 Uhr

Weitere Veröffentlichungen

Die Mitarbeiter der rbm veröffentlichen regelmäßig Fachartikel. Der Schwerpunkt der Veröffentlichung ist die Versorgung mit Hilfsmitteln. Sie finden unsere Veröffentlichungen unter Veröffentlichungen - Rechte behinderter Menschen (rbm).