Chancengleichheit juristisch verteidigt

von Dr. Michael Richter (rbm)

Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts könnte ein wichtiger Schritt in Richtung Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben sein. Das Gericht gab einem Kläger recht, der eine Festanstellung aufgab und für seine neue selbstständige Tätigkeit eine Arbeitsassistenz beantragte. Diese war ihm zunächst verweigert worden.

Mit der Einführung des Anspruchs auf selbstorganisierte Arbeitsassistenz - im Rahmen des Inkrafttretens des Sozialgesetzbuchs (SGB) IX 2001 - schien der Anspruch von Menschen mit einer Behinderung auf Arbeitsassistenz geklärt zu sein - verbindlich geregelt in § 102 Abs. 4 SGB IX. Zufällig musste ich zu diesem Zeitpunkt eine Hausarbeit für die Zulassung zur Promotion verfassen, wählte das Thema “Praktische Probleme bei der Umsetzung des Anspruchs auf Arbeitsassistenz” und wäre damals nie auf die Idee gekommen, dass die Rechtsnatur des Anspruchs streitig sein könnte und erst 17 Jahre später endgültig geklärt würde.

In diesen 17 Jahren lagen Fälle von Missbrauch dieses Anspruchs, teilweise unverständliche Rechtsprechung, um Missbrauchstendenzen entgegenzutreten, Lichtblicke und ungenutzte Chancen, durch eine Arbeitsassistenz Menschen mit einer Behinderung die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Jedoch hat diese Zeit auch gezeigt, wie wichtig das Thema Arbeitsassistenz gerade für Menschen mit einer Seheinschränkung ist. In vielen Fällen hat ihnen die oben genannte Regelung ein reibungsloses Arbeiten ermöglicht.

In der Praxis hing viel vom Wohlwollen des zuständigen Integrationsamtes ab, wobei Menschen in einem klassischen Arbeitnehmerverhältnis mit durchschnittlicher Qualifikation in der Regel unproblematisch mit Arbeitsassistenz versorgt wurden. Menschen mit innovativen, selbstständigen oder außergewöhnlichen Tätigkeiten wurde dagegen seltener eine notwendige Arbeitsassistenz gewährt. Oft scheiterte daran sogar ihre Erwerbstätigkeit.

Ein solcher Fall lag auch dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Januar 2018 zugrunde (Az.: 5 C 9.16). Der blinde Kläger begehrte die Übernahme der Kosten einer Arbeitsassistenz. Er stand seit 2000 als Beamter im Dienst des luxemburgischen Staates. Bis 2013 reduzierte er schrittweise diese Tätigkeit auf die Hälfte der Arbeitszeit, um daneben eine von ihm 2008 gegründete Firma zu betreiben. Das zuständige Integrationsamt lehnte den Antrag ab. Begründung: Die Kostenübernahme diene dem Abbau der Arbeitslosigkeit, der Kläger sei aber nicht arbeitslos, sondern als Beamter ins Arbeitsleben integriert.

Anspruch auf Kostenübernahme ist keine Ermessenssache

Das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein hatte die Berufung des Klägers mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Leistungen des SGB IX die Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen, erleichtern oder sichern sollten. Der Kläger sei durch seine Tätigkeit als Beamter in Luxemburg aber bereits hinreichend in das Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingegliedert. Aus der freiwilligen Reduzierung dieser Tätigkeit könne nicht folgen, dass die Eingliederung nachträglich wieder entfalle.

Klarstellend entschied das Bundesverwaltungsgericht jetzt für den Kläger und führte sinngemäß aus: Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz kommt bis zum 31. Dezember 2017 § 102 Abs. 4 SGB IX alte Fassung und für die Zeit danach § 185 Abs. 5 SGB IX neue Fassung in Betracht. Nach diesen Vorschriften haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz. Diese Vorschrift begründe einen nicht im Ermessen der Behörde stehenden Anspruch auf Kostenübernahme. Die “Notwendigkeit” der Arbeitsassistenz sei nicht deshalb zu verneinen, weil der schwerbehinderte Mensch bereits einer anderen Teilzeitbeschäftigung nachgehe. Dem Anspruch auf Kostenübernahme könne auch nicht entgegengehalten werden, dass der schwerbehinderte Mensch den Umfang seiner bereits bestehenden Beschäftigung freiwillig reduziert habe, um der anderen Erwerbstätigkeit, für die er die Arbeitsassistenz benötigt, nachgehen zu können. Die Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz würden als begleitende Hilfen im Arbeitsleben übernommen.

In der Regel soll ein mehrere Jahrzehnte währendes Arbeitsleben durch die Hilfe begleitet werden, daher ermögliche das Gesetz nicht nur eine punktuelle Unterstützung des schwerbehinderten Menschen (etwa zur Überwindung von Arbeitslosigkeit), sondern darüber hinaus eine länger andauernde, unter Umständen sogar permanente Hilfe. Im modernen Arbeitsleben könne nicht davon ausgegangen werden, dass jemand während des gesamten Erwerbslebens derselben Tätigkeit nachgehe oder denselben Beruf ausübe.

In die gleiche Richtung wiesen die oben erwähnten Paragrafen 102 und 185: Demnach soll die von den Integrationsämtern durchgeführte begleitende Hilfe im Arbeitsleben bewirken, dass schwerbehinderten Menschen in ihrer sozialen Stellung nicht absinken. Vielmehr sollen sie auf Arbeitsplätzen beschäftigt werden, auf denen sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse voll verwerten und weiterentwickeln können sowie durch Leistungen der Rehabilitationsträger und Maßnahmen der Arbeitgeber befähigt werden, sich am Arbeitsplatz und im Wettbewerb mit nichtbehinderten Menschen zu behaupten. Die Maßnahmen zielten somit auch darauf ab, dem schwerbehinderten Menschen eine vollständige Umsetzung seiner vorhandenen Fähigkeiten und Kenntnisse im Erwerbsleben zu ermöglichen und diese weiterzuentwickeln. Dem liegt das Verständnis eines Menschen zugrunde, bei dem sich auch im Beruf die Persönlichkeit entfalte und der seine Arbeitskraft hierfür einsetze. Deshalb sei es grundsätzlich Sache des schwerbehinderten Menschen zu entscheiden, welchem Beruf er nachgehe, ob er diesem seine Arbeitskraft vollumfänglich widme oder ob er sie anteilig für mehrere Erwerbstätigkeiten einsetze. Ebenso könne er selbst entscheiden, ob er eine Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung ausübe.

Diese Auslegung entspräche auch dem in Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention zum Ausdruck kommenden Menschenbild und dem dort niedergelegten Recht auf Arbeit - unter anderem das Recht, diese frei zu wählen. Die UN-Behindertenrechtskonvention sei seit dem 1. Januar 2009 als innerstaatliches Recht im Rang einfachen Bundesrechts anzuwenden und könne als Auslegungshilfe für die Bestimmung und den Inhalt der Grundrechte und des einfachen Gesetzesrechts herangezogen werden.

Erwerbstätige entscheiden frei, wie sie ihre Arbeitskraft aufteilen

Nichtbehinderten Menschen stehe es frei zu entscheiden, wie sie ihre Arbeitskraft einsetzen. Sie können nach eigenem Gutdünken darüber befinden, welchen Beruf sie ergreifen wollen, ob sie diesem ihre Arbeitskraft voll widmen oder sie anteilig auf mehrere Erwerbstätigkeiten aufteilen. Für schwerbehinderte Menschen könne dementsprechend nichts anderes gelten.

Eine andere Sichtweise würde das Gebot der Chancengleichheit nicht hinreichend beachten. Dies würde dazu führen, einem schwerbehinderten Menschen, der einen Arbeitsplatz habe, der seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entspreche und für den er keine Arbeitsassistenz beanspruche, generell den freiwilligen Wechsel des Arbeitsplatzes zu verwehren - auch wenn der neue Arbeitsplatz ebenfalls seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entspreche, er aber dafür eine Arbeitsassistenz bräuchte. Nicht beachtet würde bei dieser Sichtweise auch der allgemein bekannte Umstand, dass in der modernen Arbeitswelt ein freiwilliger Wechsel des Arbeitsplatzes oder des ausgeübten Berufs im Laufe eines Erwerbslebens durchaus üblich sei. Konsequenterweise wäre dann auch bei erster Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch einen schwerbehinderten Menschen, für die er auf eine Arbeitsassistenz angewiesen ist, zu prüfen, ob er nicht auf eine Tätigkeit ohne Arbeitsassistenz verwiesen werden kann, wofür allerdings eine Rechtsgrundlage nicht ersichtlich sei.

Bemerkenswert deutliche Worte des Bundesverwaltungsgerichts. Was dieses Urteil aber für die Bewilligungspraxis heißt, was es heißen könnte und welche Veränderungen sich hieraus ergeben könnten, zum Beispiel für die Anwendungen der Empfehlungen der Integrationsämter für die Genehmigung von Arbeitsassistenz, werde ich im nächsten Heft darlegen.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Sichtweisen” Ausgabe 08/2018 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.).

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Dr. Michael Richter
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