Mobil mit Rollator und Führhund

von Stefanie Jonasch (rbm)

Darf ein blinder Mensch, der beim Gehen einen Rollator nutzt, einen Blindenführhund bekommen? Nein, meinte die Krankenkasse einer Patientin, die sich mit einem Blindenlangstock allein nicht mehr orientieren konnte. Ja, urteilte hingegen das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen. Es betonte jedoch auch, dass jeder Einzelfall zu prüfen sei. Pauschal ablehnen dürfen Krankenkassen einen Blindenführhund also nicht, wenn außer der Seheinschränkung auch eine Gehbehinderung vorliegt.

Ein richtungsweisendes Urteil hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen im vergangenen Jahr gefällt (Urteil vom 21.11.2017, Az.: L 16/1 KR 371/15). Es betrifft die Versorgung blinder und sehbehinderter Menschen mit einem Blindenführhund. In dem Verfahren ging es um eine inzwischen 74-jährige blinde Klägerin, die Multiple Sklerose hat. Aufgrund dieser Erkrankung ist sie gehbehindert und nutzt einen Rollator. Sich nur mit Hilfe des Langstocks fortzubewegen, war ihr nicht mehr möglich: Sie beantragte darum im Jahr 2011 bei ihrer Krankenkasse die Versorgung mit einem Blindenführhund. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass nicht ersichtlich sei, welcher “Gebrauchsvorteil” für die Klägerin durch einen Blindenführhund erzielt werden könne. Außerdem wurde die allgemeine Mobilität der Klägerin aufgrund ihrer Mehrfachbehinderung in Frage gestellt.

Bereits in der ersten Instanz wurde der Klägerin vor dem Sozialgericht Lüneburg der Blindenführhund zugesprochen. Mehrere Gutachten bestätigten, dass sie ausreichend mobil sei und dass das Führen eines Blindenhundes auch mit Rollator möglich sei - wenn der Hund entsprechend ausgebildet sei.

Die Krankenkasse akzeptierte diese Entscheidung nicht und legte unter Hinweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebot Berufung ein. Darüber hinaus sei nicht nachvollziehbar, wie ein Führgespann im konkreten Fall funktionieren solle und ob die Klägerin überhaupt in der Lage sei, einen Hund ausreichend zu versorgen.

Das Landessozialgericht holte weitere medizinische Gutachten ein und überzeugte sich selbst im Rahmen der mündlichen Verhandlung von der Gehfähigkeit der Klägerin. Es kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin ausreichend mobil sei und der Blindenführhund in diesem Fall erforderlich sei. Angesichts der bei der Klägerin vorliegenden Kombination von Blindheit und Gehbehinderung sei die Versorgung mit einem Langstock und Mobilitätstraining nicht ausreichend, um die Mobilität und die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums zu gewährleisten.

Das Gericht betonte, dass es bei Entscheidungen über die Versorgung mit einem Blindenführhund auf den Einzelfall ankomme. Es dürfe nicht um abstrakte, generelle Gebrauchsvorteile eines Führhunds gegenüber einem Langstock gehen, sondern darum, ob ein bestimmter Versicherter einen Blindenführhund brauche. Die sogenannte Versorgungsnotwendigkeit sei nach medizinischen Gesichtspunkten zu beurteilen.

Damit hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen seine Rechtsprechung zu Mehrfachbehinderung bei Blindheit fortgesetzt. Bereits in einem Urteil vom August vergangenen Jahres (29.08.2017, Az.: L 16/4 KR 65/12) hatte es einem blinden und schwerhörigen Versicherten einen Blindenführhund zugesprochen. Es hatte ausgeführt, dass die Orientierungsfähigkeit des Klägers durch die Kombination von Blindheit und Schwerhörigkeit erheblich erschwert sei. Während Beeinträchtigungen eines einzelnen Sinnesorgans noch durch andere Organe kompensiert werden könnten, sei dies bei Doppelbehinderungen im Einzelfall nicht mehr möglich.

Die Entscheidungen des Gerichts zeigen: Wer einen Blindenführhund beantragen will, sollte sich nicht nur abstrakt auf die allgemeinen Vorteile berufen, die ein Blindenführhund gegenüber einem Blindenlangstock bietet. Vielmehr müssen konkrete Situationen und Begebenheiten im täglichen Leben aufgeführt werden, in denen sich der Betroffene nicht mehr ausreichend und sicher im Straßenverkehr bewegen kann, wenn er nur einen Langstock zu Hilfe nimmt. Dies gilt sowohl für Versicherte, die “nur” blind oder sehbehindert sind, als auch wenn eine Mehrfachbehinderung vorliegt.

Positiv für Versicherte ist, dass Krankenkassen einen Antrag auf Versorgung mit einem Blindenführhund nicht pauschal ablehnen können, indem sie auf einen zu schlechten Gesundheitszustand oder gar mangelnde Mobilität eines Betroffenen hinweisen.

Eine interessante Randnotiz: Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat die Vorgehensweise der beklagten Krankenkasse im Verfahren gerügt. Diese war nämlich im Vorfeld der mündlichen Verhandlung an eine zu Anfang des Verfahrens beteiligte Blindenführhundschule herangetreten und hatte Behauptungen über den aktuellen Gesundheitszustand der Klägerin aufgestellt. Die Schule gab diese Informationen an eine Gutachterin weiter, die ursprünglich ein für die Klägerin positives Gutachten erstellt hatte. Der Krankenkasse teilte die Blindenführhundschule dann mit, dass die Gutachterin ihre ursprüngliche Einschätzung revidiert hätte. Das Gericht betrachtete die Behauptungen der Krankenkasse über den Gesundheitszustand der Klägerin als nicht wahr, sondern wertete sie als Versuch zu verhindern, dass die Klägerin ihren Anspruch durchsetzen konnte.

Das Gericht erinnerte die Krankenkasse daraufhin an ihre Bindung an Recht und Gesetz und wies sie auf ihre Pflicht hin, eine humane Krankenbehandlung der Versicherten sicherzustellen.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Sichtweisen” Ausgabe 04/2018 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.).

Angaben zur Autorin

Stefanie Jonasch
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