Behördenpost muss lesbar sein

von Stefanie Jonasch (rbm)

Immer wieder wenden sich Menschen an die Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” (rbm), wenn sie; Widerspruchs- oder Klagefristen versäumt haben, weil sie den Bescheid in Schwarzschrift nicht lesen konnten. Dabei stellt sich heraus, dass viele Betroffene glauben, dass ihnen Bescheide in barrierefreier Form zur Verfügung gestellt werden müssen. Doch ist dies tatsächlich der Fall?

Die Behörde ist in der Pflicht

Als blinder oder stark sehbehinderter Mensch ist man selbstverständlich voll geschäftsfähig. Das heißt, man muss grundsätzlich Sorge dafür tragen, dass man seinen Schriftverkehr mit Behörden erledigen kann. Ob man hierfür Hilfsmittel einsetzt oder Assistenz in Anspruch nimmt, muss jeder selbst entscheiden.

Um Menschen mit Seheinschränkung eine gleichberechtigte Teilhabe bei der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen Rechte und Pflichten zu ermöglichen, sind Behörden verpflichtet, Bescheide und andere Dokumente barrierefrei zur Verfügung zu stellen. So heißt es im Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG, § 10, Absatz 1):

“Träger öffentlicher Gewalt im Sinne des § 1 Absatz 2 Satz 1 haben bei der Gestaltung von Bescheiden, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen und Vordrucken eine Behinderung von Menschen zu berücksichtigen. Blinde und sehbehinderte Menschen können zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach Absatz 2 insbesondere verlangen, dass ihnen Bescheide, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke ohne zusätzliche Kosten auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden.”

Wortgleiche oder sehr ähnliche Regelungen finden sich auch in den Landesgleichstellungsgesetzen (LGG), die zumeist auch für Kommunen gelten.

Barrierefreiheit auf Verlangen

Was bedeutet dies in der Praxis, zum Beispiel für Steuer- oder Rentenbescheide oder auch die Kostenübernahmeerklärung der Krankenkasse? Wichtig zu wissen ist, dass das Recht auf barrierefreien Schriftverkehr nur “auf Verlangen” gewährt wird. Das heißt, dass ein blinder oder sehbehinderter Mensch der öffentlichen Stelle seinen Wunsch mitteilen muss, in einer bestimmten, für ihn wahrnehmbaren Form zu kommunizieren. Dies gilt auch, wenn der Behörde aus dem Sachzusammenhang die Behinderung bekannt ist, zum Beispiel bei der Gewährung von Blindengeld. Die Folge: Ein blinder oder sehbehinderter Mensch kann sich nicht auf Nichtwissen berufen, wenn er eine für ihn zugängliche Form der Dokumente nicht eingefordert hat (vgl. Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 7.3.2017, Az. 6 M 4.17).

Das ausdrückliche “Anforderungserfordernis” ist darauf zurückzuführen, dass nicht für jeden die gleichen Formate zugänglich sind. Die Behörde kann nicht wissen, ob im Einzelfall die Braille- oder Großschrift, ein elektronisches Format oder die mündliche Kommunikation die richtige Wahl ist. Viele Betroffene beherrschen keine Punktschrift oder nutzen bestimmte technische Hilfen nicht; manche Betroffene bevorzugen eine Vorleseassistenz. In diesem Fall ist zu berücksichtigen, dass ein besonderes Vertrauensverhältnis gegeben sein muss, denn der Betroffene muss sich Fehler der Assistenzkraft zurechnen lassen.

Sonderregelung bei Gerichtsverfahren

Über die Regelung im BGG hinaus gibt es Sonderfälle, in denen dem Verlangen auf barrierefreien Schriftverkehr eine Hinweispflicht durch die jeweilige Behörde vorgeschaltet ist. Gemäß der Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (ZMV, § 4 Absatz 2 Satz 2) besteht ein Anspruch darauf, auf das Recht hingewiesen zu werden, sich den Schriftverkehr im Gerichtsverfahren barrierefrei zugänglich machen zu lassen. Dieser Pflicht kann nur ein Hinweis genügen, der von der blinden oder sehbehinderten Person wahrgenommen werden kann. Unterbleibt ein solcher Hinweis, kann der Betroffene zum Beispiel bei Versäumen der Berufungsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangen (vgl. Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 16.3.2016, Az. L 8 SO 10/ 14). Das Landessozialgericht geht in diesem Fall sogar soweit, die Hinweispflicht auf eine Kommune auszuweiten, die das Benachteiligungsverbot in ihrem Satzungsrecht nicht konkretisiert hat. Dies ist jedoch eine Einzelfallentscheidung, die nicht als allgemeine Hinweispflicht missverstanden werden darf.

Und wenn sich die Behörde sperrt?

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Menschen mit Seheinschränkung, die in Verwaltungsangelegenheiten barrierefrei kommunizieren wollen, dies der Behörde mitteilen müssen, und zwar unter Angabe des gewünschten Formats.

Was können Betroffene tun, wenn die Behörde ihrem Wunsch nicht nachkommt? Wenn es sich um eine Bundesbehörde handelt, gibt es die Möglichkeit, sich an die Schlichtungsstelle des Bundes zu wenden, die bei der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung angesiedelt ist (www.schlichtungsstelle-bgg.de). Außerdem gibt es, auch bei Landeseinrichtungen, die Möglichkeit, eine Feststellungsklage einzureichen.

So kann das Bestehen des Rechtsanspruchs gerichtlich festgestellt werden. Da dies für den Einzelnen jedoch kosten- und zeitintensiv sein kann, ist es eventuell sinnvoller, sich an den zuständigen Landesverein des DBSV zu wenden. Dieser kann bei Häufung ähnlicher Fälle eine Verbandsklage erheben.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Sichtweisen” Ausgabe 10/2017 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.).

Angaben zur Autorin

Stefanie Jonasch
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