von Dr. Michael Richter (rbm)
Kindergeld und beitragsfreie Krankenversicherung – damit ist spätestens Schluss, wenn Kinder ihr 25. Lebensjahr vollendet haben. Nicht so bei behinderten Kindern. Sind sie aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, wird die Entlastung der Eltern fortgeführt, unter Umständen ohne Altersbeschränkung. Die Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” fasst die einschlägige Rechtsprechung zusammen.
Natürlich wünschen sich alle Eltern, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten, sich zielgerichtet beruflich orientieren und rasch in ihrem “Traumjob” ein auskömmliches Einkommen erzielen. Bei Eltern blinder und sehbehinderter Kinder jedoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Idealvorstellung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres umsetzen lässt, eher gering. Trotz aller Anstrengungen führt eine Behinderung häufig zu Verzögerungen im Ausbildungsverlauf und beim Start in den Beruf. Die Folge sind erhöhte finanzielle Belastungen der Eltern. Aber: Im Einkommenssteuergesetz und im Sozialgesetzbuch V und XI gibt es Ausnahmeregelungen, um diese behinderungsbedingten Mehraufwendungen ein Stück weit aufzufangen.
Im Rahmen des Kindergeldbezugs besteht gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 in Verbindung mit § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr.3 des Einkommenssteuergesetzes (EStG) ein Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges Kind, wenn dieses wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Erstaunlich weitreichend sind die einschlägigen Ausführungen des Bundesfinanzhofs (BFH, Urteil vom 22.10.2009 – III R 50/07). Hier heißt es: “Für ein arbeitsloses, behindertes Kind besteht ein Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr.3 EStG, wenn die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich dafür ist, dass es keine Arbeit findet und deshalb außerstande ist, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten ...”
Wie den Erläuterungen zu diesem Urteil zu entnehmen ist, ist ein behinderter Mensch dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn ihm für den allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nach aktuellem Stand nicht mindestens 8.472 Euro pro Jahr und darüber hinaus finanzielle Mittel zur Deckung behinderungsbedingter Mehraufwendungen zur Verfügung stehen. Werden diese Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, kann der Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 1 bis 3 EStG herangezogen werden (1.420 Euro bei hochgradiger Sehbehinderung, 3.700 Euro bei Blindheit).
Natürlich kann ein behinderter Mensch nicht nur wegen seiner Behinderung arbeitslos sein, sondern auch wegen der allgemein ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt oder wegen anderer Umstände, etwa mangelnder Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung oder Ablehnung von Stellenangeboten. Ein Anspruch auf Kindergeld besteht daher nur dann, wenn die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich dafür ist, dass der Lebensunterhalt nicht allein bestritten werden kann. Ist im Schwerbehindertenausweis das Merkmal “H” (hilflos) eingetragen, kann laut BFH grundsätzlich eine Ursächlichkeit angenommen werden. Bei einem Grad der Behinderung von 50 oder mehr müssen besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen ausgeschlossen erscheint. Nicht ursächlich ist die Behinderung in der Regel bei einem Grad der Behinderung von weniger als 50.
Ein Indiz für die Vermittelbarkeit eines behinderten Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kann eine nicht behinderungsspezifische Berufsausbildung sein. Wenn der Arbeitssuchende der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und die Agentur für Arbeit mittelfristig keine passenden Stellenangebote beschaffen kann oder mehrere Bewerbungen ohne Erfolg geblieben sind, spricht dies in der Regel dafür, dass die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich für die Arbeitslosigkeit ist.
Ein Anspruch auf Kindergeld besteht auch dann, wenn die Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen, um den gesamten Lebensbedarf (existenzieller Grundbedarf und behinderungsbedingter Mehrbedarf) zu decken und keine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung anzunehmen ist.
Sogar im Falle der Heirat ist zu prüfen, ob ein Kindergeldanspruch besteht. Wegen der vorrangigen Unterhaltspflicht des Ehepartners sind zunächst dessen Einkünfte heranzuziehen. Reichen diese jedoch nicht für den vollständigen Unterhalt aus, haben die Eltern Anspruch auf Kindergeld. Allein die Heirat des Kindes lässt diesen Anspruch nicht zwingend entfallen.
Interessant sind die Ausführungen des Bundesfinanzhofs auch deswegen, weil im Rahmen der Familienversicherung ganz ähnliche Kriterien für die Mitversicherung von Kindern über 25 Jahren in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung gelten. In § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V und annähernd identisch in § 25 Abs. 2 Nr. 4 SGB XI heißt es sinngemäß, dass Kinder ohne Altersgrenze über ihre Eltern versichert werden können, wenn sie als behinderte Menschen außerstande sind, sich auf absehbare Zeit selbst zu unterhalten und die Behinderung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres bestand.
Auch diese Vorschrift wird von der Rechtsprechung großzügig ausgelegt. So hat das Sozialgericht Duisburg in einer Entscheidung vom 2.9.2015 (Az.: S 31 KR 780/13) dem Kläger den Wiedereintritt in die Familienversicherung zugesprochen. Die gesetzliche Krankenkasse des Vaters hatte die Mitversicherung insbesondere mit dem Argument abgelehnt, dass einem blinden Jurastudenten grundsätzlich zuzutrauen sei, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, unter Umständen mit Helferjobs neben dem Studium. Nach intensiven Recherchen stellte das Gericht fest, dass blinden Studierenden ohne Berufsausbildung der Arbeitsmarkt auch im Rahmen von Helferjobs nicht offen steht. Soweit es im Ausbildungsverlauf zu behinderungsbedingten Verzögerungen gekommen ist, sind diese Menschen im Sinne der vorbenannten Vorschriften außerstande, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
Unschädlich war in diesem Fall sogar, dass der Kläger zwischenzeitlich drei Jahre lang als Student versichert war. Nach Auffassung des Gerichts wäre es Aufgabe der Krankenkasse gewesen, ihn auf die Möglichkeit der Familienversicherung nach Vollendung des 25. Lebensjahres hinzuweisen. Auch in anderen Fällen, wenn das behinderte Kind zum Beispiel nicht studiert, kann man sich an den dargestellten Ausführungen des Bundesfinanzhofs orientieren, um zu klären, ob der Betroffene behinderungsbedingt außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 01/2016 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.).
Dr. Michael Richter
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