Eine Behinderung ist keine Bagatelle

von Dr. Michael Richter (rbm)

Den Anspruch auf eine umfassende Rehabilitation durchzusetzen, wird immer schwieriger. Diese Erfahrung machen die Mitarbeiter der Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” (rbm). Geschäftsführer Dr. Michael Richter schildert einen besonders drastischen Fall aus dem schulischen Bereich und kommt zu dem Schluss: Im Zeitalter der Inklusion werden behinderungsbedingte Einschränkungen schnell mal kleingeredet.

Spätestens seit Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) im März 2009 durch die Bundesrepublik Deutschland ist der Begriff der Inklusion zum Dauerthema geworden. Dies gilt vor allem für den Bereich der Schule, in dem es in den meisten Bundesländern zu deutlichen Veränderungen im Umgang mit Schülern mit Behinderung gekommen ist. Wie bei fast allen Paradigmenwechseln neigen diese aber dazu, über das Ziel hinauszuschießen, so dass es zu sehr fragwürdigen Entwicklungen kommen kann. Stand bei der Integration von Menschen mit Behinderung der Betroffene im Mittelpunkt, um dessen Teilhabefähigkeit zu gewährleisten, steht bei der Inklusion die behinderungsgerechte Organisation der Gesellschaft im Vordergrund. Dabei wird oft vergessen, dass nicht nur an der barriere- und diskriminierungsfreien Gesellschaft, sondern auch an den Teilhabefähigkeiten der behinderten Menschen selbst gearbeitet werden muss und dass das eine nicht das andere ersetzen kann. Denn was nützt die barrierefreie Internetseite einer Kommune, wenn Menschen mit Seheinschränkung nicht gelernt haben, eine Vergrößerungssoftware oder eine Braillezeile zu bedienen?

Früher war alles besser?

Als ich 1985 – im Alter von 17 Jahren – erblindete, war unter Maßgabe des Fürsorgeprinzips klar, dass die Situation ernst ist und dass zur Bewältigung der Behinderung umfangreiche Maßnahmen zu ergreifen sind. Ich erhielt eine fundierte blindentechnische Grundausbildung und durfte fast selbstverständlich die Deutsche Blindenstudienanstalt (blista) als spezialisierte Einrichtung bis zum Abitur besuchen. Im Rahmen der Rehabilitation zeigten mir Fachleute Wege auf, wie ich trotz Blindheit zu einer selbstständigen Lebensführung gelangen kann. So hatte ich die Möglichkeit, mich intensiv mit meiner Behinderung auseinanderzusetzen.

Kostenträger verwehrt Schulwechsel

Vor knapp zwei Jahren suchte ein 17-jähriger Schüler eines privaten Gymnasiums in Rheinland-Pfalz den Rat der rbm. Sein Sehvermögen hatte sich in den vorangegangenen anderthalb Jahren rapide verschlechtert und trotz der Unterstützung durch die Landesschule für blinde und sehbehinderte Schüler und der Aufgeschlossenheit seiner Lehrer war der Elftklässler am Ende seiner Kräfte. Mit den vereinbarten Hilfen klappte es nicht wie abgesprochen, das heißt, die Hilfsmittelnutzung war problematisch, Lernmaterialien wurden nicht sehbehindertengerecht aufbereitet, Nachteilsausgleiche wie Zeitverlängerungen für Klausuren waren schwierig durchzusetzen usw. Die Folge dieses harten Kampfes und der zusätzlich zu bewerkstelligenden Verarbeitung der Sehverschlechterung waren Schlafstörungen, Antriebslosigkeit und schließlich die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen könne.

Nach einem Besuch der blista in Marburg fasste der Schüler den Entschluss, an diese “spezialisierte Sondereinrichtung” zu wechseln und stellte einen Antrag bei dem zuständigen Sozialhilfeträger. Dieser lehnte jedoch mit der Argumentation ab, “dass zwar der Wunsch nachvollziehbar sei, dass der Antragsteller die bestmögliche Förderung und Unterstützung für seine schulische Bildung erhalten wolle. Aber auch wenn sich die Teilnahme des Antragstellers im Schulbetrieb aufgrund der aktuellen Sehfähigkeit nicht immer einfach gestalte, scheine er das Ziel der erreichbaren Schulbildung zu erreichen. Gewiss wäre es wünschenswert, wenn der Antragsteller die Fördermöglichkeiten der Carl-Strehl-Schule in Marburg in Anspruch nehmen könne. Es sei allerdings nicht das Ziel der angemessenen Schulbildung, eine bestmögliche Schulbildung anzubieten. Eine angemessene Schulbildung sei nicht mit einer optimalen Schulbildung gleichzusetzen. Könne an der bislang besuchten Schule eine angemessene Schulbildung vermittelt werden, stehe dem Begehren, den Besuch einer anderen Schule durch Eingliederungshilfen zu fördern, der Nachrang der stationären vor ambulanten Hilfen (§ 13 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) entgegen. Dass der Bedarf am bisher besuchten Gymnasium gedeckt werden könne, ergebe sich aus dem vorliegenden Zeugnis der 10. Klasse, in denen befriedigende Leistungen erbracht worden seien.”

Beängstigende Begründung des Gerichts

Gegen diese Entscheidung legte der Hilfesuchende mit Unterstützung der rbm Widerspruch ein und beantragte den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Sein Wunsch nach einem Schulwechsel war in der Zwischenzeit noch dringender geworden, weil sich seine Situation weiter verschlechtert hatte und sogar die Versetzung gefährdet war. Das Sozialgericht Koblenz jedoch lehnte das Begehren mit einer ernüchternden, wenn nicht beängstigenden Begründung ab (Entscheidung vom 5.2.2014, Az.: S 12 SO 4/14 ER). Um die schulische Integration des Antragstellers sicherzustellen, sei der Besuch des Gymnasiums der blista in Marburg nicht erforderlich. Aus Sicht des Gerichts erscheint es jedoch erforderlich, dass die Schule weitere Anstrengungen unternimmt, um bestehende Defizite möglichst schnell abzubauen. So müsse zunächst die Schulleitung darauf hinwirken, dass alle Lehrer, die in der Klasse des Antragstellers eingesetzt werden, auf dessen Behinderung Rücksicht nehmen. Erforderlich sei die konsequente Umsetzung der Hinweise der Förderschullehrerin. Hierbei handelt es sich insbesondere um technische Maßnahmen wie die Herstellung von Arbeitsblättern und Unterrichtsmaterialien in vergrößerter Schrift. Für Klausuren müsse ein Nachteilsausgleich festgelegt werden. Darüber hinaus müssen die Lehrkräfte darauf hingewiesen werden, dass dem Antragsteller ausreichend Zeit gegeben wird, seine Hilfsmittel einzusetzen. Gegebenenfalls müsse er auch mit weiteren Hilfsmitteln, etwa einem Monokular, ausgestattet werden. Die bestehenden Defizite im schulischen Alltag, die aus Sicht des Gerichts mit “ein wenig gutem Willen” relativ leicht zu beheben seien, gehen nicht zu Lasten des Sozialhilfeträgers. Sie seien zunächst mit der Schule und den dort zuständigen Stellen, notfalls der Schulaufsicht, zu klären. Sollte dies nicht möglich sein, bedeute dies nicht, dass der Antragsteller nur auf dem Gymnasium in Marburg ausreichend beschult werden könne. Mit Verweis auf ein Gymnasium, das körperlich behinderte und nicht behinderte Schüler gemeinsam unterrichtet, erklärt das Gericht, dass eine bedarfsgerechte Beschulung auch näher am Wohnort erfolgen könne.

Vier Lehren aus dem Fall

Zugegeben, es handelt sich hier um einen besonders drastischen Fall und dies umso mehr, als der rbm-Mandant inzwischen den Versuch abgebrochen hat, das Abitur zu erlangen, und psychisch schwer erkrankt ist. Da jedoch den Mitarbeitern der rbm die Tendenz, Behinderungen zu bagatellisieren, immer häufiger begegnet, soll an dieser Stelle nachdrücklich auf folgende Punkte hingewiesen werden:

  1. Gemäß Art. 24 Abs. 3 BRK ist eine inklusive Beschulung noch kein eigener Wert. Sie ist erst dann gelungen, wenn die bestmögliche Förderung aller Schüler gewährleistet ist.
  2. Sonderschul- oder stationäre Rehabilitationsangebote dürfen erst dann abgeschafft werden, wenn funktionierende inklusive Strukturen installiert sind.
  3. Der qualitativ hochwertigen Habilitation oder Rehabilitation behinderter Menschen im Sinne von Art. 26 BRK ist ein erhöhtes Augenmerk zu widmen.
  4. Bei der Umgestaltung von Unterstützungsangeboten ist darauf zu achten, dass die Expertise von spezialisierten Pädagogen und Rehabilitationslehrern nicht verloren geht, indem nur noch “oberflächlich” sensibilisierte und ausgebildete Frühförderer, Lehrer, Integrationshelfer etc. eingesetzt werden.

Natürlich ist es richtig und wichtig, nicht nur über Defizite von behinderten Menschen zu sprechen und das Ziel ihrer Inklusion in die Gesellschaft zu unterstützen. Mit Blick auf den beschriebenen Fall erscheint es mir aber genauso wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine Behinderung keine Bagatelle ist und erst eine intensive und qualifizierte Rehabilitation von behinderten Menschen diese “inklusionsfähig” macht.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 10/2015 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.).

Angaben zum Autor

Dr. Michael Richter
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