Kein “Persil-Schein” für Verletzung der Mitteilungspflicht

von Dr. Michael Richter und Markus Brinker (rbm)

Für viel Aufsehen sorgte in den letzten Monaten eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Rheinland-Pfalz vom 25. Juni 2012 (Aktenzeichen: 7 A 10286/12.OVG): Trotz Verletzung seiner Mitteilungspflicht muss ein Blinder zu viel gezahltes Blindengeld nicht zurückzahlen. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Und was bedeutet sie für vergleichbare Fälle? Die Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” (rbm) informiert.

Im Herbst 2005 hatte der damals 76-jährige Kläger aus Zweibrücken Landesblindengeld beantragt, das ihm auch gewährt wurde. Den Antrag, der von ihm selbst unterschrieben war, hatte seine Tochter ausgefüllt. In den Jahren 2006 und 2008 erteilte der Kläger unter anderem seiner Tochter umfassende Vorsorgevollmachten.

Bereits am 17. Januar 2008 war der Kläger in ein Alten- und Pflegeheim gezogen, was dem Ordnungsamt, nicht aber dem Sozialamt mitgeteilt wurde. Erst im Dezember 2010 erhielt das Sozialamt von dem Umzug Kenntnis und forderte daraufhin das für die Zeit von Mitte Februar 2008 bis Dezember 2010 gezahlte Blindengeld in Höhe von rund 14.000 Euro zurück.

Das OVG entschied nun in zweiter Instanz, dass der Kläger zwar seit Mitte Februar 2008 keinen Anspruch mehr auf die Auszahlung des Landesblindengeldes hatte, das überzahlte Blindengeld jedoch nicht zurückgefordert werden kann.

Alle Landesblindengeldgesetze enthalten Regelungen zu der Frage, ob und in welchem Umfang Blindengeld während eines Heimaufenthalts gezahlt wird. Im rheinland-pfälzischen Blindengeldgesetz findet sich diese Regelung in § 3, Abs. 1. Demnach ruht der Anspruch auf Blindengeld, wenn sich blinde Menschen länger als vier Wochen in Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen aufhalten.

In dem vorliegenden Fall ruhte daher mit dem 2008 erfolgten Umzug in das Alten- und Pflegeheim der Anspruch auf Auszahlung des Blindengeldes, was auch vom OVG so festgestellt wurde. Das Gericht bestätigte die Auffassung des Sozialamts und des Verwaltungsgerichts, dass der Kläger seiner Mitteilungspflicht nicht nachgekommen ist, obwohl seine Tochter den Umzug beim Ordnungsamt angezeigt hatte.

Änderungen der Verhältnisse, die für den Betroffenen nachteilig sind, müssen den Behörden mitgeteilt werden  –  so schreiben es die Blindengeldgesetze wie auch andere Gesetze vor. Wird diese Mitteilungspflicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt, so wird etwa ein Blindengeldbescheid rückwirkend zu dem Zeitpunkt aufgehoben, zu dem die Änderung eingetreten ist. Zwar war der Kläger seiner Mitteilungspflicht über den Umzug in ein Alten- und Pflegeheim nicht nachgekommen. Die entscheidende Frage, die das OVG zu klären hatte, war jedoch, ob der Kläger grob fahrlässig gehandelt hat.

Um wirksam zu werden, muss der Bewilligungsbescheid dem Kläger in rechtmäßiger Weise bekannt gegeben werden. Das OVG sieht diese Bedingung in dem konkreten Fall erfüllt und führt dazu aus: “Soweit für einen Bescheid über eine Sozialleistung Schriftform vorgeschrieben ist (...), ist den Anforderungen genügt, wenn als Schriftzeichen Buchstaben und Zeichen verwendet werden, die den Inhalt (...) für einen Sehenden lesbar machen. Zwar ist es geboten, einem blinden Menschen keine rechtlichen Nachteile daraus erwachsen zu lassen, dass er sich infolge seiner Blindheit keine Kenntnis vom Inhalt eines schriftlichen Bescheides verschaffen kann. Blinde Menschen haben jedoch keinen Anspruch auf die Bekanntgabe eines Bescheides in einer sonstigen Form.” Im Weiteren stellt das OVG klar, dass zwischen der förmlichen Bekanntmachung eines Bescheids und der Möglichkeit, den Bescheid zusätzlich in einer für Blinde wahrnehmbaren Form bereitzustellen, zu unterscheiden sei.

Von grober Fahrlässigkeit ist erst dann auszugehen, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wird. Dies vermag das OVG dem Kläger nicht zu unterstellen: “Auf grob fahrlässiges Handeln des Klägers, für das die Beklagte (...) die Beweislast trägt, könnte sie sich allenfalls dann berufen, wenn dem Kläger der Inhalt des Antragsformulars oder des Bescheides (...) vollumfänglich vorgelesen worden ist oder wenn er verpflichtet gewesen wäre, Sorge dafür zu tragen, dass ihm deren Inhalt vollständig vorgelesen wird. Von beidem kann nicht ausgegangen werden.”

Das OVG hält es für unwahrscheinlich, dass dem Kläger, der zudem unter einer Hörminderung leidet, alle Einzelheiten des Antragsformulars und des Bewilligungsbescheids vorgelesen worden sind. Dabei bezieht sich das Gericht auf die allgemeine Lebenserfahrung, wonach man sich in ähnlichen Situationen auf die wesentlichen Inhalte beschränkt (z. B. Beginn und Höhe der Blindengeldzahlung). Zudem könne eine blinde Person nicht kontrollieren, ob ihr sämtliche Inhalte vorgelesen worden sind.

Für blinde Menschen sieht das OVG keine Verpflichtung, sich bei der Beantragung von Sozialleistungen alle Formulare und weiteren Schriftstücke von Dritten vollständig vorlesen zu lassen. Vielmehr verweist das OVG auf die Obliegenheit der Behörden, mit blinden oder sehbehinderten Menschen in einer für sie wahrnehmbaren Form barrierefrei zu kommunizieren.

Schließlich bezweifelt das Gericht, ob sich der blinde Kläger, selbst wenn ihm das Antragsformular und der Bewilligungsbescheid vollständig vorgelesen worden wären, zum Zeitpunkt der Aufnahme in das Alten- und Pflegeheim an seine Mitteilungspflicht hätte erinnern müssen. Verwiesen wird hier auf die verstrichene Zeit und die intellektuelle Befähigung des Klägers.

Da sich das OVG in der Begründung seines Urteils im Wesentlichen auf die individuellen Gegebenheiten des Falls beschränkt, wird die Entscheidung nur sehr begrenzt allgemeine Auswirkungen haben. Keinesfalls kann in diesem Urteil ein “Persil-Schein” für annähernd gleichgelagerte Verfahren gesehen werden.

Zu beachten sind nicht nur die persönlichen Gegebenheiten, sondern auch die geltenden Rechtsvorschriften. So kann zum Beispiel in Schleswig-Holstein ein Anspruch auf Rückforderung bereits durch einfache Fahrlässigkeit begründet sein. Zudem werden die Bezieher von Blindengeldleistungen in der Regel im Rahmen eines standardisierten Abfrageverfahrens regelmäßig auf ihre Mitwirkungspflichten hingewiesen.

Schließlich ist in dem vorliegenden Fall das Verhalten der Töchter und/oder der Enkelin völlig unberücksichtigt geblieben. Diesen hatte der Kläger umfangreiche Vorsorgevollmachten erteilt. Damit stellt sich die Frage, ob ihnen nicht früher hätte auffallen müssen, dass der Heimaufenthalt dem Sozialamt mitzuteilen ist, etwa im Zusammenhang mit dem standardisierten Abfrageverfahren.

Im Ergebnis kann das Urteil des OVG Rheinland-Pfalz zwar in vergleichbaren Fällen einen Anknüpfungspunkt für Rechtsmittel gegen Rückforderungen von Landesblindengeld bieten. Keinesfalls sollte man aber im Vertrauen auf das Einzelfallurteil bewusst seine Mitteilungspflichten vernachlässigen und damit auf finanzielle Vorteile hoffen.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 11/2012 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband).

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Dr. Michael Richter
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