Pflegebedürftigkeit und Blindheit

von Christiane Möller (rbm)

Blind gleich pflegebedürftig: Diese einfache Formel geht nicht auf. Viele Menschen sind irritiert, wenn sie einen abschlägigen Bescheid von der Pflegekasse erhalten. Die Materie ist komplex, so dass an dieser Stelle nur ein Schnellkurs für Einsteiger möglich ist. Anhand eines frei erfundenen, aber typischen Fallbeispiels stellt die Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” (rbm) die gesetzlichen Grundlagen dar  –  in zwei Beiträgen in dieser und der nächsten Ausgabe der “Gegenwart”.

Fallbeispiel: Der schwierige Alltag der Lieselotte Müller

Frau Müller ist 80 Jahre alt. Über 40 Jahre lang hat sie als Kindergärtnerin gearbeitet, im Rentenalter war sie ehrenamtlich im Sportverein aktiv. Doch dann ließ ihre Sehkraft nach, bis sie fast vollständig erblindete. Plötzlich war sie auf Hilfe angewiesen. Beim Kochen und Putzen, beim Wäschewaschen und Einkaufen, überall musste die Schwiegertochter behilflich sein und beinahe täglich vorbeikommen. Irgendwann kam diese dann auf die Idee, einen Antrag auf eine Pflegestufe zu stellen. Gesagt, getan: Der medizinische Dienst kam ins Haus, prüfte die Situation und schon bald traf der Bescheid der Pflegekasse ein  –  allerdings nicht mit dem gewünschten Inhalt. Eine Pflegestufe, so hieß es, könne nicht zuerkannt werden. Frau Müller und ihre Angehörigen reagierten mit Unverständnis.

Wer hat Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung?

Die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung sind im Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) geregelt. Wer gesetzlich krankenversichert ist, zahlt auch Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung und hat im Bedarfsfall Anspruch auf entsprechende Leistungen. Wer privat krankenversichert ist, muss hingegen eine private Pflegeversicherung abschließen. Im Folgenden werden nur die Bestimmungen für Versicherte der gesetzlichen Pflegeversicherung nach SGB XI erläutert.

Um bei der Pflegeversicherung einen Anspruch geltend zu machen, muss eine Pflegebedürftigkeit festgestellt werden.

Pflegebedürftig sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im täglichen Leben auf Dauer, mindestens aber für voraussichtlich sechs Monate, in erheblichem Maße der Hilfe bedürfen (§ 14 Abs. 1 SGB XI).

Die Auswirkungen einer Blindheit oder Sehbehinderung sind bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit grundsätzlich zu berücksichtigen. Um die “gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen” zu definieren, werden in § 14 Abs. 4 SGB XI die folgenden vier Bereiche benannt:

Bei der Feststellung einer Pflegebedürftigkeit kommt es nicht auf die Art und Schwere der Krankheit oder den Grad der Behinderung an. Entscheidend ist vielmehr, dass bestimmte Verrichtungen krankheits- oder behinderungsbedingt nicht oder nur teilweise ausgeführt werden können. Es gibt also keinen Automatismus im Sinne von blind gleich pflegebedürftig! Sofern eine Pflegebedürftigkeit in einem Mindestumfang besteht, erfolgt die Zuordnung zu einer Pflegestufe, und zwar gemäß dem Ausmaß des jeweiligen Hilfebedarfs (§ 15 SGB XI).

Blindheit allein reicht meist nicht für Pflegestufe I

Durch eine Erblindung kommt es regelmäßig dazu, dass viele Alltagsverrichtungen nicht mehr selbstständig ausgeführt werden können. Insbesondere bei der hauswirtschaftlichen Versorgung stoßen viele Menschen an ihre Grenzen, wenn die Sehkraft nachlässt. Dennoch wird allein bei Blindheit in aller Regel keine Pflegestufe zuerkannt. Dies folgt daraus, dass schon bei Pflegestufe I ein täglicher Hilfebedarf von durchschnittlich 90 Minuten bestehen muss, wobei über 45 Minuten aus dem Bereich der Grundpflege nachgewiesen sein muss  –  hierzu zählen Körperpflege, Ernährung und Mobilität. Nun könnte man argumentieren, dass bei blinden Menschen gerade der Bereich der Mobilität einen erhöhten Hilfebedarf verursacht. Unter dem Begriff “Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung” jedoch sind nur solche Wege zu berücksichtigen, die unmittelbar für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause notwendig sind, regelmäßig und auf Dauer anfallen und das persönliche Erscheinen des Betroffenen erfordern, also etwa Arztbesuche, therapeutische Maßnahmen oder Behördengänge. Unberücksichtigt bleiben dagegen Spaziergänge, die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen oder die Erledigung von Einkäufen. Die Mobilität beim Einkaufen wird vielmehr unter dem Bereich “hauswirtschaftliche Versorgung” berücksichtigt.

Aufgrund dieses sehr eingeschränkten Verständnisses von Pflegebedürftigkeit wird bei blinden Menschen in der Regel die 45-minütige tägliche Grundpflegezeit nicht erreicht. Der hohe Unterstützungsbedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung spielt für die Einstufung in eine Pflegestufe dann keine Rolle.

Ausgleich durch Blindengeld

Um dennoch die erheblichen blindheitsbedingten Mehrbedarfe ausgleichen zu können, haben blinde Menschen Anspruch auf Blindengeld nach den jeweiligen Landesblindengeldgesetzen und  –  soweit die entsprechenden Einkommens- und Vermögensgrenzen nicht überschritten werden  –  auch auf Blindenhilfe nach § 72 SGB XII. Diese Leistungen werden  –  anders als die Pflegeleistungen  –  unabhängig von einem tatsächlich nachgewiesenen Bedarf als pauschale Leistung gewährt.

Auch Frau Müller bekommt mittlerweile Blindengeld, was ihren Alltag erheblich erleichtert, denn sie kann sich jetzt eine Einkaufshilfe finanzieren und auch jemanden, der ihr regelmäßig vorliest. Nur leider geht es mit ihrer Gesundheit weiter bergab. Die Schwiegertochter stellt erneut einen Antrag auf eine Pflegestufe  –  diesmal mit Erfolg. Was das wiederum für Folgen hat, unter anderem für das Blindengeld, lesen Sie in der Juni-Ausgabe der “Gegenwart”.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 05/2012 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband).

Angaben zur Autorin

Christiane Möller
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