Zwischen Sicherheit und Stigma

von Markus Brinker (rbm)

Bin ich verpflichtet, mich als sehbehinderte oder blinde Person im Straßenverkehr zu kennzeichnen? Und wenn ja, wie muss diese Kennzeichnung erfolgen? Mit diesen Fragen wenden sich Betroffene immer wieder an die Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen”. Das Wichtigste zur Kennzeichnung, die in vielen Fällen sehr ratsam ist, im Überblick.

Grundsätzlich kann jeder am Straßenverkehr teilnehmen  –  als Fußgänger, Radfahrer oder, sofern man Inhaber einer entsprechenden Fahrerlaubnis ist, auch motorisiert. Aber wie wirkt sich dieser Grundsatz aus, wenn man sehbehindert oder blind ist? In den einschlägigen Gesetzen gibt es aus gutem Grund keine starren Regelungen, die speziell für blinde und sehbehinderte Verkehrsteilnehmer geschaffen worden wären. Eine Ausnahme stellen natürlich die Regelungen für eine Fahrerlaubnis dar, zu deren Erwerb ein gewisses Sehvermögen vorausgesetzt wird. Der Leitgedanke zur sicheren Teilnahme aller Menschen am Straßenverkehr ist in § 1 der Straßenverkehrsordnung verankert. Hier heißt es:

(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
(2) Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Diese Verpflichtung zur Vorsicht und gegenseitigen Rücksichtnahme kann es im Einzelfall gebieten, als sehbehinderter oder blinder Verkehrsteilnehmer nur begleitet oder sichtbar gekennzeichnet auf die Straße zu gehen. § 2 Abs. 1 der Fahrerlaubnisverordnung, die immer wieder als einschlägige Vorschrift für die “Kennzeichnungspflicht” Sehbehinderter und Blinder herangezogen wird, enthält aber keine genauen Kriterien, wann dies tatsächlich erforderlich ist.

Die Vorschrift lautet:

“Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. Die Pflicht zur Vorsorge, namentlich durch das Anbringen geeigneter Einrichtungen an Fahrzeugen, durch den Ersatz fehlender Gliedmaßen mittels künstlicher Glieder, durch Begleitung oder durch das Tragen von Abzeichen oder Kennzeichen, obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst oder einem für ihn Verantwortlichen.”

Das heißt: Es gibt keine generelle Verpflichtung, sich ab einer bestimmten Visusgrenze als Sehbehinderter oder Blinder im Straßenverkehr zu kennzeichnen. Der Gesetzgeber überlässt jedem selbst die Einschätzung, ob er sicher am Straßenverkehr teilnehmen kann, ohne eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darzustellen und ab wann er selbst Vorsorgemaßnahmen treffen sollte  –  etwa in Form eines Mobilitätstrainings, einer entsprechenden Kennzeichnung oder durch eine Begleitperson. Praktisch bedeutet dies, dass es sehbehinderte Menschen mit einem Visus von fünf Prozent geben kann, die vollkommen sicher und ungekennzeichnet am Straßenverkehr teilnehmen können, während andere mit 20-prozentiger Sehkraft unbedingt eine Kennzeichnung benötigen.

Sehbehinderte oder blinde Fußgänger können ihre Behinderung durch einen weißen Blindenstock, einen Blindenhund im weißen Führgeschirr und gelbe Abzeichen mit drei schwarzen Punkten kenntlich machen. Unter den gelben Abzeichen versteht der Gesetzgeber in erster Linie die gelbe Armbinde, die an beiden Armen getragen werden muss, nicht aber die kleinen Anstecknadeln, da diese nicht ausreichend erkennbar sind.

Auch wenn der Schritt zur Kennzeichnung gerade für Sehbehinderte, insbesondere auch für Kinder und Jugendliche, emotional häufig eine Hürde darstellt, sollten sich die betroffenen Personen oder Verantwortlichen über die Konsequenzen einer fehlenden, aber erforderlichen Kennzeichnung im Klaren sein.

Ist eine sichere Teilnahme am Straßenverkehr objektiv nicht gewährleistet und kennzeichnet sich der Betroffene nicht entsprechend sichtbar für andere Verkehrsteilnehmer, so begeht er eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld geahndet werden kann. Viel wichtiger als die bußgeldrechtlichen Konsequenzen, die in der Praxis ohnehin kaum eine Rolle spielen, sind die zivilrechtlichen Folgen bei einem möglichen Verkehrsunfall.

Fehlt die erforderliche Kennzeichnung, wird von der gegnerischen Partei und auch von den Gerichten nach dem ersten Anschein in der Regel von einem Verschulden des sehbehinderten oder blinden Verkehrsteilnehmers ausgegangen. Dazu muss man gar nichts weiter falsch gemacht haben, als sich nicht zu kennzeichnen. Im Zweifel kann es also teuer werden, weil man nicht nur für den eigenen Schaden, sondern gegebenenfalls auch für die Verletzungen anderer aufzukommen hat. Nur eine ordnungsgemäße Kennzeichnung kann hier Abhilfe schaffen. Da das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme gilt, haben alle anderen Verkehrsteilnehmer eine erhöhte Sorgfalt walten zu lassen, sobald sie einen entsprechend gekennzeichneten blinden oder sehbehinderten Verkehrsteilnehmer wahrnehmen.

Ist eine andere Person für den sehbehinderten oder blinden Menschen verantwortlich, wie beispielsweise die Eltern oder andere Aufsichtspersonen für Kinder, so kann dies eine Haftung dieser Aufsichtspersonen für auftretende Schäden nach sich ziehen, wenn eine Kennzeichnung objektiv notwendig war und nicht ordnungsgemäß erfolgt ist.

Zur eigenen Sicherheit und zur Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer empfiehlt es sich daher, gewisse Eitelkeiten abzulegen, sich im Zweifel entsprechend zu kennzeichnen und gegebenenfalls auch ein Orientierungs- und Mobilitätstraining zu absolvieren.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 01/2012 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband).

Angaben zum Autor

Markus Brinker
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