Wegweisendes Urteil für die Bezahlung von Arbeitsassistenz

von Dr. Michael Richter (rbm)

Benötigen schwerbehinderte Menschen Unterstützung am Arbeitsplatz, haben sie Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Arbeitsassistenz. In welcher Höhe dies geschieht, legen viele Integrationsämter ungeachtet der tatsächlich anfallenden Kosten fest. Diese Praxis stellt nun ein Urteil infrage, das Dr. Michael Richter, Geschäftsführer der Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen”, erstritt.

In dem Rechtsfall ging es um einen blinden Selbstständigen, der seit gut zehn Jahren ein Geschäft für Audioausstattungen in Berlin betreibt und dabei Arbeitsassistenz im Umfang von acht Stunden pro Arbeitstag benötigt. Obwohl das zuständige Integrationsamt diesen Bedarf anerkannte, kürzte es die Kostenübernahme für die vom Mandanten selbst organisierte Arbeitsassistenz für den Zeitraum 2007 und 2008 von 2.100 auf 1.800 Euro. Diese Kürzung erfolgte mit Verweis auf die einschlägigen Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) für die Erbringung finanzieller Leistungen zur Arbeitsassistenz schwerbehinderter Menschen vom 1. August 2005. Im selben Bescheid wurde angekündigt, dass für die Jahre 2009 und 2010 eine Kürzung auf zunächst monatlich 1.500 Euro und in einem weiteren Schritt auf die in den Empfehlungen vorgesehene “Höchstförderung” von 1.100 Euro erfolgen würde.

Genau so kam es und leider entschied auch das in erster Instanz zuständige Verwaltungsgericht Berlin im Sinne des Integrationsamtes Berlin. Das im Rahmen des Berufungsverfahrens erlassene Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg vom 18.5.2011 (Az.: 6 B 1/09) dürfte die von den Integrationsämtern aufgestellten “Spielregeln” indes deutlich infrage stellen: Es folgte der Auffassung der Behörde und des Verwaltungsgerichts zwar im Ergebnis, aber nicht in der Begründung. Gegenstand des Verfahrens waren übrigens nur die Kürzungen für 2007 und 2008; die Folgeverfahren ruhten in Erwartung dieser Entscheidung.

Zu den Ausführungen des Gerichts

Schwerbehinderte Menschen haben nach § 102 Abs. 4 Sozialgesetzbuch (SGB) IX im Rahmen der Zuständigkeit des Integrationsamtes für die begleitende Hilfe im Arbeitsleben Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz. Diese Voraussetzungen lagen nach Auffassung des OVG dem Grunde nach vor. Auch dass der Mandant Assistenz im Umfang von acht Stunden täglich benötigt, um seinen Beruf ausüben zu können, war unstreitig.

Die vom Integrationsamt angeführten Empfehlungen der BIH seien indes nicht heranzuziehen, weil sie zum einen keinerlei verbindlichen Charakter aufwiesen und zum anderen keine Kriterien enthielten, die die Kostenübernahme einer notwendigen Arbeitsassistenz im hier erforderlichen Umfang regelten. Den Empfehlungen zufolge sollen bei einem durchschnittlichen täglichen Unterstützungsbedarf von weniger als einer Stunde bis zu 275 Euro, von einer Stunde bis unter zwei Stunden bis zu 550 Euro, von zwei Stunden bis unter drei Stunden bis zu 825 Euro und von mehr als drei Stunden bis zu 1.100 Euro übernommen werden.

Das OVG bezweifelte, dass die Annahme eines Höchstbetrages von 1.100 Euro angemessen ist, wenn der Unterstützungsbedarf  –  wie beim Mandanten  –  deutlich über drei Stunden täglich hinausgeht. Vielmehr sei es angebracht, sich in Fällen, in denen der Bedarf den Umfang einer Vollzeitstelle habe, an der Höhe des Stundenlohns der Assistenz zu orientieren. Die im konkreten Fall bewilligte Kostenübernahme von 1.800 Euro schätzte der Senat dann auch als ausreichend ein: Der entsprechende Stundenlohn von rund 8,60 Euro sei angemessen, da es sich zum einen bei den hier erforderlichen Tätigkeiten um Hilfstätigkeiten handele, für die keine Ausbildung oder besondere Qualifikation erforderlich seien, und weil zum anderen der Stundenlohn dem gewerkschaftlich geforderten allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro entspreche.

Zu den praktischen Auswirkungen

Die Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg dürfte sich auf die zukünftige Praxis der Kostenübernahme für eine notwendige Arbeitsassistenz durch die Integrationsämter auswirken. Folgende Punkte sind dabei von besonderer Relevanz:

Bei allem Optimismus für die Zukunft des Rechtsanspruches auf Arbeitsassistenz und dessen Umsetzung ist indes zu berücksichtigen, dass es nunmehr zwei widersprechende Entscheidungen von Oberverwaltungsgerichten gibt: Die hier behandelte des OVG Berlin-Brandenburg und die des OVG Bremen vom 15.10.2003, die den Integrationsämtern ein Ermessen bei der Kostenübernahme von Arbeitsassistenz zugesteht und damit Anlass für die BIH-Empfehlungen war. Die Integrationsämter werden sich sicherlich weiterhin auf ihre Empfehlungen stützen. Allerdings können sich Betroffene nunmehr auf das Urteil des OVG Berlin-Brandenburg berufen, wenn sie im Einzelfall meinen, durch die Anwendung der BIH-Empfehlungen deutlich ungerecht behandelt zu werden.

Insgesamt dürfte die hier in Rede stehende Entscheidung somit der Anfang zu einer sachgerechteren Handhabung des Rechtsanspruches auf eine selbst organisierte Arbeitsassistenz sein und vielleicht auch den Weg in Berufsbilder mit einem höheren Assistenzbedarf ebnen.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 09/2011 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband).

Angaben zum Autor

Dr. Michael Richter
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