Wundertüte Hilfsmittelantrag

von Dr. Michael Richter (rbm)

Bei der Versorgung mit Hilfsmitteln versuchen die gesetzlichen Krankenkassen verstärkt, die Anträge der Versicherten mit Festbeträgen und Hilfsmittelpauschalen zu beantworten. So wird der Hilfsmittelantrag zu einer Wundertüte, über deren Inhalt immer wieder die Gerichte entscheiden müssen.

Bevor wir die Wundertüte der Hilfsmittelversorgung öffnen und ihren Inhalt begutachten, soll es um neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung gehen. Sowohl zum so genannten “Einkaufsfuchs” als auch zum DAISY-Player hat es mehrere erstinstanzliche Urteile von Sozialgerichten zur Ausstattungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen gegeben, die zugunsten der Versicherten ausgefallen sind. Zwar sind dies Einzelfallurteile, die nicht für jeden Ausstattungsfall verbindlich sind, jedoch zeigen sie, dass eine nur mit allgemeinen Argumenten begründete Ablehnung dem Antragsteller nicht gerecht wird. Ob im Einzelfall ein Anspruch auf die Versorgung mit einem Hilfsmittel besteht, hängt sowohl von der bereits vorhandenen Versorgung mit anderen Hilfsmitteln als auch vom Bedarf ab, der durch den Einsatz des Hilfsmittels zu decken ist. Beim “Einkaufsfuchs” beispielsweise muss geprüft werden, ob jemand seinen Haushalt alleine führt und gleichzeitig Pflegeleistungen erhält. Bei der Feststellung, ob ein DAISY-Player zur Deckung des Grundbedarfs an Informationsaufnahme notwendig ist, spielt hingegen die bereits vorhandene Hilfsmittelausstattung und deren praktische Einsetzbarkeit eine erhebliche Rolle.

Für sehbehinderte Menschen spielt die Versorgung mit hochwertigen und qualifizierten Sehhilfen eine enorm wichtige Rolle. Einer genaueren Betrachtung der maßgeblichen Rechtslage ist die Tatsache voranzustellen, dass eine Versorgungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen im Bereich der Sehhilfen nur noch für Kinder unter 18 Jahren und für sehbehinderte Menschen gilt, das heißt für Menschen, die mit einer Sehhilfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 30 Prozent sehen.

Im folgenden Fall ging es um eine sehbehinderte Schülerin, die Betroffene fiel also unter beide Regelungen. Für die Schule benötigte sie eine Bifokalbrille, eine Sehhilfe sowohl mit Nah- als auch mit Fernteil. Der Kostenvoranschlag entsprechend der ärztlichen Verordnung belief sich auf ca. 400 Euro, die Kasse wollte jedoch mit Hinweis auf die vorgesehenen Festbeträge nur ca. 140 Euro übernehmen. Die Mutter  –  eine Hartz-IV-Empfängerin  –  wusste nicht weiter und wandte sich an die Rechtsberatung des DVBS (Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf). Daraufhin kam es zur Klage vor dem Sozialgericht Marburg und zu folgendem eindringlichen Hinweis des Gerichts an die gesetzliche Krankenkasse:

“Unter Berücksichtigung der Entscheidung des BSG vom 13.01.2009 (B 3 KR 7/02) erkennt das Gericht einen Anspruch der Klägerin auf volle Kostenübernahme für beide Bifokalgläser, solange nicht dargelegt ist, dass die Behinderung durch Hilfsmittel, die zum Festbetrag zur Verfügung stehen, hinreichend ausgeglichen werden kann. Den gesetzlichen Krankenkassen ist zuzugeben, dass grundsätzlich die Festbetragsregelung zum Tragen kommt, mit der Folge, dass darüber hinausgehende Kosten dem Versicherten zur Last fallen. Demgegenüber steht jedoch nach wie vor das Sachleistungsprinzip, das sich am Bedarf des Versicherten orientiert. Sofern für die Klägerin keine Versorgung zum Festbetrag zur Verfügung steht, hat sie aufgrund des Sachleistungsprinzips einen Anspruch auf Ausstattung mit den medizinisch notwendigen, ggf. auch teureren Hilfsmitteln.”

Unjuristisch ausgedrückt stellt die Richterin klar, dass die gesetzliche Krankenkasse genau das zu zahlen hat, was bei der Verschreibung als medizinisch erforderlich erkannt wurde. Praktisch heißt dies für die Versicherten, dass sie die Pflicht haben, nach Möglichkeit mit dem Festbetrag auszukommen. Wenn zum Festbetrag aber keine angemessene Versorgung möglich ist, müssen doch die Krankenkassen zahlen  –  Festbetrag hin oder her. Dies gilt übrigens auch für andere Hilfsmittel, zum Beispiel im Rahmen der Hörgeräteversorgung. Gerade für Menschen mit einer Hörsehbehinderung reichen Standardgeräte oft nicht aus, weil das Gehör zum Beispiel bei der Orientierung das reduzierte Sehvermögen kompensieren muss. Dafür sind oftmals teurere und höherwertige Hörgeräte nötig, bei denen die gesetzliche Krankenkasse nicht auf die Festbeträge verweisen kann, sondern für das “Notwendige” aufkommen muss.

Schließlich soll der wenig erfreuliche Anlass für die “wunderliche” Überschrift dieses Artikels unter die Lupe genommen werden. Verschiedene Änderungen im Recht der gesetzlichen Krankenkassen (SGB V) verpflichten diese, mit Hilfsmittellieferanten Rahmenvereinbarungen zu schließen. Aufgrund dieser Vorgabe gehen immer mehr Krankenkassen dazu über, mit Hilfsmittellieferanten so genannte “Versorgungsverträge” und entsprechende Kostenpauschalen zu vereinbaren. Zwar soll hierbei eine hinreichende Qualität gesichert sein, für die Versicherten erweisen sich diese Vereinbarungen aber immer häufiger als Wundertüten.

Es ist bereits mehrfach vorgekommen, dass eine Ausstattung von einem speziellen Hersteller beantragt wurde, am Ende aber eine Bewilligung über eine Hilfsmittelpauschale erfolgte. In diesen Fällen stellt die gesetzliche Krankenkasse den Antragsteller vor die Wahl, ob er die  –  zumeist sehr niedrige  –  Hilfsmittelpauschale annimmt und seine ursprüngliche Ausstattung zu einem Großteil selbst finanziert oder ob er seinen ursprünglichen Ausstattungswunsch aufgibt und die vorgesehene Ausstattung des Vertragspartners seiner Krankenkasse ausprobiert. Leider weiß der Versicherte in letzterem Fall in aller Regel nicht, welche Geräte ihm geliefert werden und ob diese dem ursprünglichen Antrag einigermaßen entsprechen.

Eine große gesetzliche Krankenkasse weigerte sich mehrfach, die Ausstattung mit einem so genannten “offenen System”, bestehend aus Screenreader und Braillezeile, zu gewähren und verwies auf die deutlich kostengünstigere Hilfsmittelpauschale bzw. auf die “Vertragsausstattung”, die angeblich eine ausreichende Versorgung gewährleisten würde. Trotz mehrfacher und hartnäckiger Nachfrage konnte oder wollte die Krankenkasse nicht mitteilen, wie diese Ausstattung konkret aussehen würde. Stattdessen berief sie sich auf den Rahmenvertrag und verwies auf die entsprechenden Pflichten des vertraglich gebundenen Hilfsmittellieferanten, der die Ausstattung zu einem Preis von ca. 1.200 Euro zur Verfügung stellen würde. Wer auch nur halbwegs über die Kosten von Hilfsmitteln informiert ist, weiß, dass dies völlig unmöglich ist, aber es stellt sich unweigerlich die Frage: “Was ist zu tun?”

Kann oder will man nicht viel Geld in die Hand nehmen, um seinen Bedarf zu decken, gibt es wohl nur eine Handlungsalternative: Man erklärt sich mit der angebotenen Ausstattung widerspruchsfristgemäß und vorbehaltlich deren “Geeignetheit” einverstanden. Im vorliegenden Fall zeigte sich bei Lieferung, dass der vertraglich gebundene Hilfsmittellieferant als “offenes Vorlesesystem” lediglich einen Screenreader lieferte. Nach dieser Offenbarung konnte der Antragsteller immerhin den Rechtsweg beschreiten und dem Gericht nachweisen, dass seine Krankenkasse keine Braillezeile bewilligen wollte. Offen ist in solchen Fällen zwar immer noch, ob im jeweiligen Einzelfall ein Anspruch auf eine Braillezeile besteht, aber wenigstens kann man über diese Frage dann qualifiziert streiten. Geht man diesen Weg nicht, steht die Behauptung der Krankenkasse unwiderlegt im Raum, dass dem Antrag vollständig  –  aber sehr kostengünstig  –  entsprochen wurde. Ärgerlich bleibt diese Vorgehensweise trotzdem, da durch die notwendige “Probe aufs Exempel” viel Zeit auf dem Weg zur bedarfsgerechten Ausstattung verloren geht.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 05/2009 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband).

Angaben zum Autor

Dr. Michael Richter
Rechte behinderter Menschen gGmbH
Frauenbergstr. 8
35039 Marburg
Tel.: 0 64 21 /9 48 44 - 90 oder 91
Fax: 0 64 21 /9 48 44 99
Website: rbm-rechtsberatung
E-Mail: kontakt(at)rbm-rechtsberatung.de

Weitere Veröffentlichungen

Die Mitarbeiter der rbm veröffentlichen regelmäßig Fachartikel. Der Schwerpunkt der Veröffentlichung ist die Versorgung mit Hilfsmitteln. Sie finden unsere Veröffentlichungen unter Veröffentlichungen - Rechte behinderter Menschen (rbm).