Starke Argumente für Elternassistenz

von Dr. Michael Richter (rbm)

Die Pflege und Erziehung des eigenen Kindes ist ein Grundbedürfnis von Eltern. Das geht aus einem einschlägigen Urteil und einem ersten Bewilligungsbescheid über Elternassistenz hervor. Inwieweit lässt sich daraus auch für blinde und sehbehinderte Eltern ein Anspruch auf Elternassistenz ableiten? Die Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” (rbm) geht der Frage nach.

In einer Pressemitteilung des Bundesverbandes behinderter und chronisch kranker Eltern vom 25. November des vergangenen Jahres hieß es unter der Überschrift “Behinderte Eltern erstreiten sich Elternassistenz”, dass mit Bescheid vom 20.11.2009 einer körperbehinderten Mutter von zwei Kindern erstmals ein Persönliches Budget für Elternassistenz als Teilhabeleistung bewilligt worden sei. In der Begründung der Bewilligung steht, dass entsprechend der neueren Rechtsprechung die Pflege und Erziehung eines Kindes ein Grundbedürfnis von behinderten und nicht behinderten Eltern sei. Die Verantwortungsübernahme der Eltern für ihr Kind sei eine zentrale Frage der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Dementsprechend seien die erforderlichen Hilfen von 18 Stunden pro Woche als Eingliederungshilfe gemäß § 54 SGB XII in Verbindung mit § 55 SGB IX anerkannt worden.

Die auf diese Pressemitteilung hin eingeleitete Recherche ergab, dass sich bereits ein Gericht mit Elternassistenz befasst hatte und der dortigen Antragstellerin vorläufig einen Anspruch auf entsprechende Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe zugesprochen hatte. Dem Beschluss des Verwaltungsgerichtes Minden vom 31.07.2009 (Az.: 6 L 382/09) sind folgende sehr interessante Kernaussagen zu entnehmen:

  1. Der Anspruch von Eltern auf die persönliche Betreuung und Versorgung ihrer Kinder im eigenen Familienhaushalt ist ein Ausdruck des gemäß Artikel 6 Abs. 2 und 3 Grundgesetz geschützten Elternrechtes.
  2. Aufgrund dieser Tatsache müssen sich auch schwerbehinderte Eltern nicht über das übliche Maß hinaus (Kindergarten, Vorschule, Schule) auf öffentliche Kinderbetreuungsangebote in Einrichtungen verweisen lassen.
  3. Die eigene Pflege und Erziehung eines Kindes ist ein Grundbedürfnis behinderter wie nicht behinderter Eltern und die weitreichendste soziale Bindung überhaupt. Deshalb ist die Ermöglichung der Verantwortungsübernahme von schwerbehinderten Eltern für ihr Kind eine zentrale Voraussetzung für die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
  4. Da die Leistungskataloge der Eingliederungshilfe in § 54 SGB XII und § 55 SGB IX nicht abschließend sind, ist Elternassistenz als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gemäß §§ 53 ff. SGB XII in Verbindung mit § 55 Abs. 2 SGB IX im begründeten Einzelfall zu gewähren.
  5. Der Hilfebedarf liegt ausschließlich bei dem schwerbehinderten Elternteil und nicht beim Kind, denn dieses hat weder selbst einen “Eingliederungshilfebedarf” noch bedarf es der Hilfe zur Erziehung.
  6. Der behördliche Hinweis auf vorbeugende Maßnahmen zur Vermeidung von drohenden Erziehungsdefiziten beim Kind behinderter Eltern liegt völlig neben der Sache und kommt einer Diskriminierung nahe.
  7. Aufgrund der unter Punkt 5 und 6 genannten Feststellungen sowie der Tatsache, dass die Gewährung von Elternassistenzleistungen nicht nur einen kurzfristigen, vorübergehenden Hilfebedarf abdeckt, kommt eine Gewährung weder nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) in Betracht noch im Rahmen des Ersatzes von Kinderbetreuungskosten im Sinne von § 54 SGB IX.

Anzumerken ist, dass sowohl der erwähnte Bewilligungsbescheid als auch der Beschluss des Verwaltungsgerichtes Minden schwerst mehrfach körperbehinderte Eltern betraf, die physisch nicht in der Lage waren, bestimmte Pflegemaßnahmen beim Kind durchzuführen. Zudem ist auf die Verantwortung beider Elternteile hinzuweisen, was aber nicht bedeutet, dass bei einer begründeten Abwesenheit eines Elternteiles (zum Beispiel durch Erwerbstätigkeit) kein Anspruch bestünde.

Der Anspruch von blinden oder hochgradig sehbehinderten Eltern auf Elternassistenz im Rahmen der Eingliederungshilfe dürfte sicherlich nicht im eingangs genannten Umfang von 18 oder sogar mehr Wochenstunden bestehen. Hierfür sind blinde oder hochgradig sehbehinderte Eltern  –  wenn auch erst nach entsprechender fachkundiger Unterweisung in Lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF)  –  wohl nicht genug auf Hilfe angewiesen. Allerdings gibt es unstreitig Dinge, die man als alleinverantwortlicher blinder oder sehbehinderter Elternteil nicht leisten kann und die zum Kernbereich elterlicher Pflege gehören. Die Praxis wird zeigen, inwieweit diese Bedarfe im Rahmen der Eingliederungshilfe durchgesetzt werden können.

Sollten Sie einschlägige Erfahrungen machen oder Hilfe bei der Geltendmachung des vorgestellten Anspruchs benötigen, wenden Sie sich vertrauensvoll an Ihr rbm-Team.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “Gegenwart” Ausgabe 03/2010 des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband).

Angaben zum Autor

Dr. Michael Richter
Rechte behinderter Menschen gGmbH
Frauenbergstr. 8
35039 Marburg
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Fax: 0 64 21 /9 48 44 99
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